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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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lachen, denn es fühlt sich genauso an wie die Verleihung eines Stalinpreises! Lampenfieber, wissen Sie, und alles, was dazugehört. Hätte ich meinen Orden als Verteidiger Leningrads anlegen sollen oder hätten sie das als Provokation verstanden? Alles ist eine Provokation. Und das Schlimmste ist … Galina wird für mich beten; das wäre ganz ihre Art. Ich kann sie aus dem Fenster springen sehen, wenn sie mich mitnehmen, und dann wäre ich … Und Elena muss aus der Zeitung davon erfahren haben. Was für ein Glück, dass du mich nicht geheiratet hast, Elena. Da war Ninuscha einmal ganz meiner Meinung. Er musste das tun, für, für sie und für die Kinder, und danach würden sie nie wieder darüber reden. Wenn er daran zurückdachte, wie Meyerhold verschwunden war – mein Gott! Der Mann war nie etwas anderes gewesen als ein Theaterleiter! – Und wie man seine Frau Sinaida mit ausgestochenen Augen gefunden hatte, warum muss ich immerzu daran denken, Jahr um Jahr?
    Er empfand keine Dankbarkeit für Mrawinskis grandiose Geste, ge
nauso wenig wie für jene andere damals anno 38, nein, nein, sogar Dankbarkeit musste er unterdrücken. Unmöglich, vorherzusagen, welche Platte die »Organe« als Nächstes auflegen würden! Und diese Unmöglichkeit quälte ihn. Jede Nacht riss der Schrecken ihn aus dem Schlaf.
    Gestern hatte Nina ihn angefleht, um Aufnahme in die Partei zu ersuchen. Er hatte erwidert (es war in der Nacht, und natürlich wurde das Gespräch in schauerlichem Flüsterton geführt): Ich, ich gehe meinetwegen da hin und scheiße mich voll, aber das werde ich nie tun, nicht einmal wenn sie uns alle abholen kommen! In die NSDAP trete ich ja auch nicht ein!
    Er packte mit beiden Händen das Rednerpult, er starrte dem ersten Menschen ins Gesicht, den er sah, ein Gesicht, so selbstzufrieden wie das irgendeines Stachanow-Arbeiters aus der Zementfabrik, Vorbild für Produktivität ohne Grenzen, der eine Armbanduhr gewonnen hatte. Plötzlich zeigte das Gesicht ihm die Zähne, in scherzoartiger Aggression.
    Schostakowitsch räusperte sich. Er sagte: Genossen, alles ist wahr. Ich bin – ich bin ein formalistischer Fremdkörper … Er verzog beklommen das Gesicht, kratzte sich das schon schüttere Haar und konnte nicht verhindern, dass seine alternde Haut in tausend neuen Grimassen Falten schlug. Rund um sich herum schien er das doppelte Grinsen von Nazimützen über Nazigesichtern zu sehen. Er dachte bei sich: der Prügelbock von Buchenwald. Aber wie hatte er vom Thema abkommen können? Warum stellte er sich nicht lieber vor, er sei einer jener blassen Akrobaten im blendenden Scheinwerferlicht des Moskauer Staatszirkus? Warum nutzlos sein? Die Menschen würden ihn sowieso nutzlos nennen, weil er, nun ja. Sie warteten, und das nicht sehr nett.
    Er sagte (und versuchte, dabei nicht in Tränen oder Gelächter auszubrechen): Immer, wenn ich das Radio einschalte und Klawdija Schulschenko »Blaues Tüchlein« singen höre, begreife ich, wie groß mein, verstehen Sie, nun, was ich sagen wollte, ich, ich, gewisse negative Eigenschaften meines musikalischen Stils haben mich daran gehindert, mich umzubauen …
16
    Unter den riesenhaften Abbildern Lenins und Stalins gestand er all seine Verbrechen, seine antidemokratischen neurotischen erotischen
Tendenzen. Dann würde Nina nicht, Sie wissen schon. Dies ist nicht real. Nicht einmal Musik ist real. Deshalb lehne ich Programmmusik ab, weil sie so tut, als wäre sie wirklich. Und Galischa, die liebe kleine Galischa, die erst gestern so kess den Kopf vor ihm zurückgeworfen hatte, und ihre Zöpfe waren über die Schultern ihres geblümten und gestreiften Pullovers gehüpft; er hatte ihr bei den Hausaufgaben geholfen, als sie, sie, egal, was hatte er sich überhaupt dabei gedacht, seiner Tochter zu schaden?
17  – Warum kann ich nicht exzentrisch sein? – Das hatte er früher tatsächlich gesagt; mit Rodtschenko hatte er sich verglichen, damals in jenen Jahren, als, mein Gott. Und Meyerhold hatte gesagt … Meyerhold war auch nie zurückgekommen. Und was sie seiner Frau angetan haben, da könnte ich … Was ist das für ein Laut? Das war es, was ihre Nachbarn hörten, als sie sich an ihr linkes Auge machten. Bitte merken, für Opus 110. Dann schwor er, dass er der Weisheit der Partei bedingungslos vertraue.
    Du lieber Mitja, du hast die Linke und die Rechte geeint! Denn während deine gleichermaßen gefährdeten Kollegen dich noch schmähen – einige sind so gefährdet

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