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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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tiefer verbarg er sie unter seinen Ticks und dem bedeutungslosen Gemurmel, mit dem er Ja zu allem sagte.
    Die Aktivisten sagten: Dimitri Dimitrijewitsch, wir hatten geglaubt, dass Sie Ihre Lektion im Jahr 1936 gelernt hätten, als wir den Irrweg der »Ledi Makbet« entlarvten.
    Ja, ja, genau.
    Aber wir hatten gehofft, Sie nehmen sich die Bestrafung zu Herzen! In Ihrer 7. Sinfonie haben Sie Ihre Kunst doch in den Dienst des Volkes gestellt.
    Danke, danke …
    Das war nicht als Kompliment gemeint. Ganz ehrlich, Sie sind Ihren Idealen nicht treu geblieben.
    Ich danke Ihnen für Ihre wertvollen kritischen Bemerkungen, erwiderte er voller Demut, und der Gedanke an Ninas vom Kissen ersticktes Gelächter, wenn er ihr heute Abend flüsternd die ganze Scharade nacherzählen würde, war sein einziger Trost. Er war schon ein Clown, oder etwa nicht? Seine Verteidigungslinien würden sie nie durchbrechen!
    Ist Ihnen klar, mit was für Sanktionen Sie rechnen müssen?
    Natürlich, Genossen, und ich bin mir sicher, diese Sanktionen werden mich, mmm, sozusagen zu weiterem Schaffen anregen (Ninuscha wird begeistert sein!) und mir zu, äh, Einsichten verhelfen …
    Dimitri Dimitrijewitsch, Sie befinden sich in großer Gefahr, wieder zum Volksfeind zu werden!
    Ich bin euch dankbar für die Warnung, Genossen. Aber macht euch
um mich keine Sorgen; macht euch bitte keine Sorgen. Indem ich mein vorheriges Schaffen revidiere, will ich anstelle eines Schritts zurück lieber (Ninotschka wird sich totlachen; nein, Ninotschka wird vor Schreck erstarren) einen Schritt nach vorn machen …
22
    Im Grunde war ihm inzwischen alles egal; fast hätte er es vorgezogen, von ihnen erschossen zu werden, solange sie Nina und den Kindern nichts antaten. Galina Ustwolskaja, nun, sie war ihm nicht so nah, wie Elena es gewesen war, und … Obwohl, ihre Kompositionen waren sehr … Können Sie sich noch an die Episode Es schlagen die Herzen der Maschinen aus Dsiga Wertows »Vorwärts, Sowjet!« erinnern? Das muss im Jahr 1926 gewesen sein, unmittelbar vor meiner 2., Sie wissen schon, Sinfonie. Ein hervorragender Filmemacher, im Grunde, obwohl, er war auch, nun ja, genau wie Roman Lasarewitsch, zu treu im Glauben. Ob Wertow noch lebt? Er ist wahrscheinlich verschwunden. Roman Lasarewitsch weiß bestimmt Bescheid, aber ich traue mich nicht, ihn zu fragen. Für mein Opus 110 brauche ich Herzen der Maschinen. Das wird eine Maschine zum, ich weiß auch nicht, sagen wir zum Zermahlen von Menschenknochen; Roman Lasarewitsch hat das gefilmt; aus irgendeinem Grund kann ich mich erinnern, dass ich mit Ninuscha im Kinopalast war, und sie hat geweint – was ihr gar nicht ähnlich sieht, wenn ich so sagen darf. Gebt mir acht Gramm. Oder sind es neun? Dann können Sie meine Knochen in die Mühle werfen … So war es ihm noch nie gegangen! Wann würde er die Unterwäsche in der Aktenmappe brauchen? Damals, anno 37, hatten sie einen in Ungnade gefallenen Mann gerne Wochen oder Monate lang frei herumlaufen lassen, damit er von Angst wie zerfressen war, wenn der Gefangenentransporter kam. Heute ist das Leben verwirrender geworden, Genossen,
    Aber Mitja, jammerte seine Frau, sie wollen dir eine helfende Hand reichen! Tritt doch bitte ein! Ich habe dich noch nie um etwas gebeten …
    Ach je, ach ja! Aber eine Hand, weißt du, die kann einen auch packen !
    Da saß er fast ganz steif auf seinem Hocker, von seinem birnenförmigen Fleisch gehalten, die weißen Finger auf den Klaviertasten gespreizt, und G. A. Ilisarowa betete ihn mit ihren Blicken an, das dunkle Haar rund um das blasse Gesicht zurückgebunden wie zu einem Keusch
heitshelm. – Sie dürfen nie in die Partei eintreten, Dimitri Dimitrijewitsch!, flüsterte sie. Wir sind so stolz auf Sie! Geben Sie den Kampf nicht auf!
    Was, wenn jemand lauschte? Rasch (wobei er der Ilisarowa zuzwinkerte) begann er die ach so herrlichen Siege unseres Sowjetvolkes zu preisen.
    12
    Im selben Augenblick erklang in fast allen Fabriken der UdSSR sein »Lied von den Wäldern« (op. 81), zur Feier der sowjetischen Arbeiterschaft (und zufällig auch des Genossen Stalin). Ninuscha war von dem Lied begeistert, jawohl, regelrecht begeistert! Das war das Schlimmste. Da konnte er kaum … Seine »Lady Macbeth« dagegen, die er ihr gewidmet hatte, nun, es war so, dass Nina sich Locken hatte legen lassen und über ihrem gestärkten weißen Kragen holzschnittartig lächelte, wie sie sich da neben ihren Gatten in die mit Samt ausgeschlagene

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