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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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flüsterte er; die neue Brille saß ihm noch schwerer auf dem Fleisch, das nun von großväterlicher Derbheit war. Seiner Ängste wegen spielte er außergewöhnlich schlecht.
    Dimitri Dimitrijewitsch dürfe nicht vergessen (erklärten seine Kollegen, als er am Flügel saß und den Kopf zwischen die Knie steckte), dass die Intelligenzija nicht mehr für sich allein existiere; sie sei nur die Vorhut der Arbeiterklasse. Er beging die gleichen Fehler wie bei »Lady Macbeth«, damals, 1936. Er lief ernsthaft Gefahr, von der Kulturfront als Deserteur betrachtet zu werden.
    Sie haben nicht nur grauenhaft schlecht gespielt, Dimitri Dimitrijewitsch, die Werke sind auch so trübsinnig, dass sie Ihre künstlerische Rehabilitierung behindern werden.
    Sie haben natürlich völlig recht, erwiderte der Komponist, die Nikolajewa tröstend neben sich, als wollte sie die nächste Seite umblättern. Sie brauchen, wie soll ich sagen, linientreue Lieder und Sanitärsinfonien und Parteipräludien und – schauen wir mal …
    So viel hat er wenigstens verstanden.
    Wenn Sie mir die Anmerkung erlauben wollen, Sie sollten sich Ihre eigene 7. Sinfonie anhören, Dimitri Dimitrijewitsch! Da ist es Ihnen gelungen, in Ihrer Musik aus dem Leben der Massen zu schöpfen. Ich habe mir sagen lassen, Sie hätten den dritten Satz ganz aus den althergebrachten Volksliedern unserer Brudervölker entwickelt. Stimmt das etwa nicht?
    Doch doch, gewiss, hauchte Schostakowitsch. Er lächelte schwach, und seine Brille blitzte auf. Er versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, aber seine Finger zitterten so sehr, dass er ein Streichholz nach dem anderen abbrach.
    Nun, dieser formalistische Müll, dem Sie uns eben ausgesetzt haben, das ist, nun ja – warum können Sie sich nicht vom Geist der Partei leiten lassen?
    Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe wirklich dankbar, Genossen. Sie wissen mit Sicherheit, wie man, nun ja, den vor uns liegenden Weg mit einem Suchscheinwerfer ausleuchtet . Und welche Leuchtkraft! Das ist sehr … Würden Sie mir empfehlen …
    Wenn Sie es einfach halten, können Sie nie etwas falsch machen, Dimitri Dimitrijewitsch. Kennen Sie zum Beispiel das Lied »Tschapajew,
der Held, durchwandert den Ural«? Das ist ein echter sowjetischer Klassiker.
    Oh, ja, oh, oh , ja. Das habe ich im Radio gehört. Das scheint sehr beliebt zu sein.
    Oder das Liedchen von Pokrass – Sie wissen schon: »Die Rote Armee ist die stärkste von allen«.
    Vielleicht, Dimitri Dimitrijewitsch, sollten Sie sich auch mehr den Heldenepen unterdrückter slawischer Völker widmen.
    Das haben wir ihm schon gesagt, Genossen. Und das muss man ihm lassen, diese 7. Sinfonie, die macht dann doch, dass …
    Danke, danke!
    Wir sind alle für den Internationalismus, Dimitri Dimitrijewitsch, aber es gibt einen Unterschied zwischen Internationalismus und Kosmopolitentum , wenn Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Sie spielen den Zionisten in die Hände!
    Den Zionisten! Aber ich habe nie – also, in dem Fall, was habe ich da nur für einen schrecklichen, äh, Fehler begangen!
    Da saß er auf dem Klavierhocker, lächelte sie über die Schulter an, und seine rastlosen Hände zitterten mit herabhängenden Fingern über den Tasten, jede Hand wie das verkohlte halbe Gerippe einer kriegszerstörten Brücke, bis die Nikolajewa ihn schließlich an der Schulter berührte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Dankbar sprang er auf und suchte sich einen Stuhl am Bühnenrand.
    Und er hält seine Distanz zu uns. Er will sich nicht um Aufnahme in die Partei bewerben …
    Endlich gelang es Schostakowitsch, sich seine Zigarette anzuzünden, und er gestand, dass all ihre Kritik völlig gerechtfertigt sei. Dann ging er mit der Nikolajewa nach Hause.
    Sie sagte: Wie geht es Ihnen, Dimitri Dimitrijewitsch?
    Agitato , lachte er händeringend.
    Als niemand sie sehen konnte, nahm sie sein Gesicht und küsste ihn, affettuoso . Aber das war nicht, Sie wissen schon.
    21
    Obwohl sie an seiner Unbelehrbarkeit fast verzweifelten, wiesen sie ihm einen alten Tutor zu, der zu ihm nach Hause kam und seine Kenntnisse der Werke des Genossen Stalin abfragte. Erschüttert stellte der Tutor fest, dass in seinem Arbeitszimmer kein Stalinbild hing. Schostakowitsch stotterte und entschuldigte sich, und hinter seinem Rücken wanden sich seine Finger wie die Tentakel eines frisch gefangenen Kuttelfisches; hinter dem Vorhang der Nervosität bereitete sein Verteidigungsmechanismus schon, mit einem kühlen, grausamen Willen

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