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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Kriegsmetall. Auf dem Heimweg ging er bei Lebedinski vorbei, um ihm die Flasche Wodka zu bezahlen, die er sich in der vergangenen Woche von ihm geborgt hatte, und ein paar alte Frauen, Angehörige der ehemaligen besitzenden Klasse, die irgendwie den Lagern entkommen waren, hockten zusammengedrängt an einer eiskalten Mauer und bettelten. Scheu verzog Schostakowitsch das Gesicht und trat zu ihnen hin. Dem alten Weib, das ihm am nächsten saß, gab er ein paar Rubel, wurde schamrot dabei, eilte davon und versuchte, die flehenden Rufe der anderen zu ignorieren. Und da war sie , auf der anderen Straßenseite, in einem schönen Mantel mit Silberfuchs-Kragen, Elena Konstantinowskaja meine ich; die Haare waren ihr grau geworden, was sie aber nur noch, wie soll ich sagen, vor dem Wort schöner schrecke ich zurück, denn, nun ja, sie war so vollkommen, und das gegen alle Wahrscheinlichkeit, wie eine goldgerahmte Ikone aus vorrevolutionären Zeiten; und sie sah ihn, aber beide waren sie an jenen Nischen auf den Fluren geschult, in die man beim Passieren Gefangene stellt, das Gesicht zur Wand, damit sie einander nicht erkennen. Er hoffte, dass sie es mit diesem, diesem, wiehießernoch, diesem Vigodski besser getroffen hatte; ihre Tochter musste sehr, sehr, nun, er konnte seine Schwester Marija fragen. Aber hatte er bei der Uraufführung von Roman Karmens »Das sowjetische Georgien« womöglich einen Blick auf sie erhascht? Denn die Augen, wissen Sie, waren auch nicht mehr wie früher … Er eilte nach Hause und brach zusammen. Zum Glück war Ninuscha nicht da! Er weinte um sein Leben und um sich selbst. Immer versuchte er, den Mund zu halten, aber ab und zu gaben sie ihm einen Redentext, und er musste aufstehen und ihn murmelnd vorlesen. In der Musiksprache bedeutete der Ausdruck da capo al segno »diese Takte wiederholen bis zum Zeichen S«. Das S war Stalin. D. D. Schostakowitschs Aufgabe war es, immer und immer zu wiederholen, was man ihm aufgetragen hatte.
    Er nahm Platz. Er tröstete sich: Es gibt keine Form. Es gibt keinen
Inhalt. Die Worte bedeuten nichts. – Sein Fuß zuckte, und sein Gesicht schnitt Grimassen.
    Er konnte nicht vergessen, wie das NKWD ihn einmal wegen seiner Verbindung zu Marschall Tuchatschewski verhört hatte. Hinten im Flur hatte er jemanden schreien gehört – ganz reine Schreie, meistens ein B; wenn die Zeit gekommen wäre, würde er sie ins Opus 110 hineinwürgen. Heute war er Deputierter im Obersten Sowjet. Morgen würde er neben Tuchatschewski liegen, wenn sie es so wollten. Wie ging der schöne Spruch? Es genügt nicht, die Sowjetmacht zu lieben. Die Sowjetmacht muss auch dich lieben.
    Er trommelte sich mit den Fingern auf die Knie und tüftelte die Kadenzen seiner Präludien und Fugen aus, für die ihn der Komponistenverband erneut als »Formalisten« brandmarken würde. Auf seinen Ruf kam die Nikolajewa jedes Mal in seine Wohnung geeilt, um sich jede Komposition anzuhören, die er fertig hatte: Nimm dir doch noch ein Pfannküchlein, Liebes. Ninuscha weiß wirklich, wie man die, genau, mit saurer Sahne. Manchmal saß sie am anderen Flügel und sah seinen flatternden Fingern zu; manchmal saß sie unter dem Porträt der Achmatowa auf dem Sofa. Wenn sie allein waren, konnte er immer con fuoco spielen, mit Feuer.
    Als sie das erste Mal zu ihm kam, hatte er das Paar in C-Dur vollendet und spielte es recht forsch, wie sie fand; und dann hob er ohne Unterbrechung mit dem Präludium in a-Moll an, wobei er ihr in die Augen blickte. Als er ihr die dazugehörige Fuge vorspielte, deutlich allegretto , stieg ihr vom Halsansatz her eine tiefe Röte ins Gesicht. Sie begriff, dass diese Musik für sie stand. Selbst jetzt noch, nach Stalin und Schdanow, verstellte ihm nichts den Weg in jene vollkommene Welt in den schwarzen Tasten, jene chromatische Welt aus Kreuz- und B-Vorzeichen und himmlisch dahinjagenden Ausweichbewegungen, diesen Ort zwischen Ja und Nein. Natürlich wurde gerade diesem Stück nach dem Vorspiel vor dem Komponistenverband, wo die Blumenrabatten so gepflanzt sind, dass die Blüten Abbilder Lenins und Stalins bilden, Kritik zuteil.
    Solche Musik lehne ich absolut ab, setzte unser Verbandssekretär an, ein bösartiger Mensch namens S. Skrebow.
30 Und meiner Ansicht nach klingt die Fuge in a-Moll entstellt und falsch, in ihren Modulationen und Akkorden abwegig. Was das Präludium in G-Dur angeht … –
    Die Nikolajewa blätterte beim Spielen für ihn um. – Danke, Tatjana,

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