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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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hübsche I. Macharowa lehnte und noch einen Wodka kippte, während A. Chatschaturjan ihm mit einem Blick zusah, dessen edelmütige Entsagung seine Eifersucht noch betonte. Ob die Macharowa sich die Arschbacke drücken lassen würde? Die linke natürlich, nur die linke! Unser Komponist zog seine Hände zurück, und seine beiden Mundwinkel zuckten allegro , als das Gespräch sich der Politik zuwandte. Alle Gäste wirkten hoffnungsfroh, nun, da sich der Stalin-Akkord am Ende wieder in sein Arpeggio aufgelöst hatte.
    Aber nun wird sich die Lage doch sicher bessern, Dimitri Dimitrijewitsch!
    Edik, sagte Schostakowitsch, die Zeiten ändern sich, aber die Spitzel bleiben die alten.
    Seine neue 10. Sinfonie, von den Kapitalisten unverschämterweise als sein »Meisterwerk« bezeichnet, war in seiner Heimat wegen ihrer Dissonanzen und ihres Pessimismus natürlich Angriffen ausgesetzt. Außerdem enthielt sie ein anstößiges erotisches Moment. Im zweiten Satz wimmelte es von seiner musikalischen Signatur, verschränkt mit den musikalischen Initialen seiner jüngsten unerwiderten Liebe, der jungen Pianistin E. M. Nasirowa. Eilig entschuldigte er sich in der Sowjetskaja Musyka dafür .
    Im August sehen wir ihn dem treuen Glikmann schreiben und ihn bitten, den Verbleib einer gewissen G. I. Ustwolskaja in Erfahrung zu bringen, mit der er viel zu besprechen habe; tags darauf schreibt er: Lieber Isaak Dawidowitsch! Meine Bitte erübrigt sich. Ich habe ein Telegramm erhalten, und die Gründe für meine Beunruhigung sind vergangen.
32
    Wir sehen sein blasses, bebrilltes Gesicht müde über Prokofjeffs Bahre leuchten. Er unternahm viele gutgemeinte Versuche, die Witwe aus dem Konzentrationslager zu befreien, wo sie seit 1948 saß. Auch für den Leningrader Dirigenten Kurt Sanderling setzte er sich ein. Als Nina ihn, außer sich vor Angst, vor den möglichen Konsequenzen warnte, sagte er: Keine Sorge, Liebes, keine Sorge; sie werden mir nichts tun.
    Unter vier Augen machte er Beria bereitwillig, aber ohne wirkliches Interesse schlecht. Die Demütigung, all diese Staatslibrettos singen zu müssen, hatte ihn halb vergiftet. In der Prawda erschienen über seinem Namenszug regelmäßig Denunziationen von Klassenfeinden. Bei offi
ziellen Anlässen tat er so, als würde er sich die aufschlussreich korrekten Bemerkungen anderer Genossen aufschreiben, damit er wenigstens nicht applaudieren musste.
    24
    Es heißt, kurz nach Stalins Tod habe ein Gast Schostakowitsch dabei ertappt, wie er in der offiziellen Biographie des Ungeheuers las, aber insgeheim, als müsse man sich dafür schämen. Dabei hatten Millionen dieses Buch gelesen (oder es zumindest gekauft)! Genau wie man in den Bücherregalen praktisch jeder deutschen Familie während einer gewissen Periode Mein Kampf gefunden hatte, so hatte sich Stalins Leben in den Tagen des »Personenkults« recht gut verkauft – vielleicht sogar noch besser als Stalins Zu den Fragen des Leninismus . Kein Sowjetbürger konnte dem Buch entkommen. Und jetzt, erst jetzt las Schostakowitsch es – und versteckte es dabei. Wie seltsam das alles war …
    Bald darauf empfing er eine Ehrung der Italiener.
    25
    Der kurze Wintertag war fast vergangen. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen seines Hotelzimmers blickte er in den Himmel auf, der das dunkle, warme rötliche Schwarz von Tee mit Himbeermarmelade angenommen hatte. Er erinnerte sich an das köstliche Dunkel des Monatsblutes von Tatjana Gliwenko eines Morgens auf dem weißen Laken – nun, das war jetzt vierzig Jahre her, und wohl deshalb waren seine Erinnerungen von einem weniger erotischen Purpur eingefärbt, wie jenes Bild, das er nicht vergessen konnte, von der Frau, die ihr Gesicht direkt vor dem Konservatorium an eine deutsche Granate verloren hatte. Er ließ die Vorhänge zufallen und trommelte eine Kadenz aus dem Opus 40 auf die Schreibtischplatte. (Egal; diese anderen würden sie nie erkennen.) Nach einer weiteren Stunde konnte man ihn ganz still in seinem Sessel sitzen und mit gesenktem Kopf dem Rhythmus leiser Schritte ganz hinten im Flur lauschen sehen. Das schallende, metronomartige Klacken hoher Absätze tröstete ihn, denn es war weiblich und ohne Hintersinn. Die trüberen Klänge weicher, quietschender Stie
fel waren es oder gedämpfte Schritte oder das gleichmäßige und doch unter-deutliche Trommeln von Männerabsätzen, die ihm Nadelstiche versetzten. Von nebenan konnte er Stimmen hören. Er konnte Wasser laufen hören. Er hörte

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