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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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riet ihm, die Sache fallenzulassen, und er sagte: Oh je! Was für einen grotesken Fehler ich da gerade begangen habe! – worauf der Apparatschik genau wusste, dass dieser widerspenstige Schostakowitsch sich nie ändern und weiterhin alles tun würde, um Witoscha zu retten.
    Kein Wunder, dass es hier drinnen so kalt ist! Das Papier in den Fensterritzen war brüchig geworden. Ich darf nicht vergessen, Ninuscha daran zu erinnern, ein paar neue Streifen aus der Iswestija daraufzuleimen; die heiße Luft wird uns bestimmt warm halten! Und wenn nicht, lassen wir Rostropowitsch mit seinem Cello kommen. Jetzt zersägen sie wieder Kisten zu Brennholz. Das war ja ein Witz – ach je! Ob ich ihn Mstislaw Leopoldowitsch schon erzählt habe? Ninuscha fand ihn dumm. Nina ist bereit, Gott sei Dank; sie war schon immer tapfer. Sollen sie aus ihren Achtundachtzigern losballern!
    Dann begann er, sozusagen, zitternd vor Furcht (ohne dieses Zittern hätte er sich nicht lebendig gefühlt), Erkundigungen einzuholen, ganz taktvoll natürlich, damit sie nicht, Sie verstehen schon, und der Genosse Alexandrow schaute vorbei, um ihn mit bösem Lächeln wissen zu lassen, das Stück Scheiße, für das er sich interessiere, befinde sich noch immer im Übergangsgefängnis, im Nischnigorodski-Gefängnis, wie sich zeigte, nicht im Gefängnis Lefortowo, gedankt sei Gott, bei dem es sich, der Großen Sowjetischen Enzyklopädie zufolge, um die Phantasiegestalt eines mächtigen übernatürlichen Wesens handelt;
31 das Nischnigorodski war nicht so übel wie das Kresty in Leningrad; und der Genosse Alexandrow erklärte ihm sogar, wie Natalja ihrem Gatten Pakete schicken könne. – Wenn es nach mir ginge, fügte er hinzu, ich würde ihm neun Gramm Blei geben, mitten in die Fresse! Was Sie angeht, Dimitri Dimitrijewitsch, raten Sie mal, welche Farbe Ihre Akte jetzt hat? Soll ich Ih
nen einen Tipp geben? Versuchen Sie es mal mit Kackbraun. Was diesen zionistischen Abschaum angeht, der kommt nie wieder frei. Wenn Sie dieser Judenfamilie wirklich helfen wollen, raten Sie Natalja, sich scheiden zu lassen und einen neuen Namen anzunehmen. Sie kommt schon durch; schlecht sieht sie nicht aus für eine alte Zicke. Sind Frauen Ihrer Meinung nach intelligent genug zum Schachspielen? Wenn sie es nicht ist, wird sie nämlich matt gesetzt! Ich will Ihnen gerne verraten, dass Sie diesmal einen schweren Fehler begangen haben. Der einzige Grund, dass ich mich Ihretwegen aus dem Fenster lehne, ist, dass Sie in Leningrad waren, als es darauf ankam …
    Da reckte Stalin zum Glück die Faust gen Himmel, fiel aufs Bett zurück und starb; und einen Monat später war Weinberg frei.
    Schostakowitsch saß zu Hause. Er war so fett geworden wie eine der Säulen der Isaakskathedrale. Sein Fleisch war bläulich-grau wie die Newa an einem nasskalten Novembertag, wenn die vergoldete Kuppel der Kasaner Kathedrale sich in unentschlossene Blässe auflöste. Viele weiße Hände ergossen sich wie Milchpudding auf sein Klavier. Rund um die Partitur seiner Sinfonie, tief unter dem Bildnis des W. I. Lenin, hing ein Häuflein Seelen. Irgendwo hatte sein lieber Freund Denissow fünfhundert Gramm reinen kaspischen Kaviar aufgetan, schwarzen, dessen Kügelchen zwischen den Zähnen platzten wie reife Träubchen. (Gebt ihm acht Gramm!) Glikmann war nicht da. Er musste etwas mit seiner Frau unternehmen. Schostakowitsch hatte immer versucht, Glikmann zu helfen. Als er von dessen zweiter Ehe erfahren hatte, war sein Rat gewesen: Wenn du das Weibliche ignorierst, dann wirst du, wie soll ich sagen, na ja, du wirst selber leiden. – Weinberg und Natalja belagerten Nina und flüsterten ihr etwas ins Ohr, als es im Radio hieß: ein furchtloser Offizier und Kommunist. Die Nikolajewa saß auf dem Sofa und summte traurig vor sich hin. Die Ustwolskaja hatte nicht kommen wollen, aber die Nachbarn von unten waren da. Auf ihre Bitte hatte er eines seiner Präludien gespielt, moderato non troppo, diesmal mit ruhiger Hand, handwerklich perfekt, denn die Musik war perfekt mit diesem wie flüssigen Austreten von Metallpartikeln aus einer Sprengladung, ohne zu schmelzen, nur kontrollierter Überdruck, der der Druckwelle die Kraft gab, alles zu durchdringen, einen Brustkorb oder einen Panzer aus Stahl. Als er fertig war, schwiegen alle; zwei Frauen weinten, nur die Nikolajewa grinste wie eine Katze, die eben eine Maus gefangen hatte.
    Er umfasste die Knie mit den Händen und sah sportif aus, wie er sich an die

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