Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
zum Witz, Sätze vor, mit denen er voller Heimtücke und Spott abschwören wollte: Sie haben recht, Genosse Iwanow, ich muss all die Jahre über geschlafen haben, aber nur weil ich, nun ja, verstehen Sie, ich wusste, dass der Genosse Stalin alles geregelt hatte, also dachte ich, er sei, was ich sagen wollte, ich bin wohl faul gewesen (wenn ich es doch nur wiedergutmachen und sein, sein – ha ha ha! Schlaginstrument sein könnte!), deshalb ist es für diesen alten Narren hier jetzt also Zeit zum Nachsitzen; und da der Genosse Stalin in seiner Genialität alles für alle Zeiten analysiert hat, da könnten Sie mir vielleicht die wichtigsten Punkte beibringen, und dann könnte ich, sozusagen, drei Schritte vorwärts machen anstatt zwei zurück, das ist nämlich alles eine Frage der Zeit und der Kampfkraft, und dann, wenn ich diese Feinheiten einmal verstanden habe, wird meine Musik zweifellos vollendeten, äh, Schmelz erlangen.
    Glikmann fertigte Auszüge aus den verhassten Bänden für ihn an, damit er sie nicht lesen musste. Der Tutor staunte über seine Fortschritte. Er versprach, ein Bild des Genossen Stalin aufzuhängen, sobald er das richtige gefunden habe, ihn aufzuhängen , habe ich gesagt , flüsterte er an jenem Abend Ninuscha zu und verfiel in ein so hilfloses Kichern, dass sie fürchtete, er könnte ersticken. Oh, dieses mordgierige Schwein.
    Er wollte, dass der gesamte Zyklus in einem aufgeführt würde – komplett vom Scherzo bis zur Sarabande –, aber er wagte nicht, ihn selbst zu spielen. Die ihm ergebene Nikolajewa tat es. Ihm träumte, dass sie ihn an seine Seite rief.
    Im Jahr 1952, dem Jahr des Klassikers »Luftparade« von Roman Karmen, wurde ihm ein weiterer Stalinpreis verliehen, zweiter Klasse, für sein Chorwerk »Zehn Poeme nach Worten revolutionärer Dichter« (op. 88). Währenddessen vollendete er sein Streichquartett Nr. 5 und
ließ die Menschen tief blicken, indem er aus dem Trio für Klarinette, Violine und Klavier seiner geliebten Galina Ustwolskaja zitierte.
    22
    Was träumst du gerade?, fragte seine Frau.
    Du solltest mich lieber fragen, was ich höre. Ich bekomme den dritten Satz meiner Siebenten nicht aus dem Kopf. Nun ja, bitte entschuldige mich, meine Liebe, beachte mich gar nicht …
    Das sind die pastoralen Passagen, die du dich schämst, dir heimlich anzuhören …
    Wie hast du das nur gewusst?
    Weil du sie schreiben musst, um dir den Rücken von den Apparatschiks freizuhalten, also schreibst du aus Protest die ganze Zeit über hässliche Musik, aber in deinem Innersten würdest du lieber …
    Gar nicht wahr, gar nicht wahr, seufzte er und zündet sich eine Kasbek-Zigarette an. Hässliche Musik war mir schon immer lieber! Selbst »Lady Macbeth« war überhaupt nicht diatonisch, und damals fühlte ich mich noch nicht gezwungen, irgendetwas Besonderes darzustellen …
    Warum hörst du dir dann jetzt diesen dritten Satz an? Damals hast du mir erzählt, dass du ihn nur geschrieben hast, damit die Massen …
    Und deshalb kann ich es heute nicht ertragen, ihn mir anzuhören, verstehst du das nicht? Ich habe es satt, immer …
    Ach, ich glaube, er gefällt dir ganz gut.
    23
    Im Jahr 1953 wurde der jüdische Komponist Weinberg verhaftet. Mit geradezu selbstmörderischem Wagemut öffnete Schostakowitsch seinen Schreibtisch, zog ein einzelnes Blatt Notenpapier heraus, so dünn wie das, mit dem wir damals in Leningrad die Fenster verdunkelt hatten, drehte es um und schrieb einen Brief an den Genossen Beria persönlich, in dem er sich für seinen Kollegen verwandte. Etwas hatte den Tunnelgang zwischen Seele und Gesicht versiegelt – wie ein undurchdringliches stählernes Schott auf einem Ölfrachter. Weil die Gattin eines Volksfeindes unweigerlich ebenfalls zum Feind wurde, würde
Weinbergs Frau Natalja als Nächste verhaftet werden – zweifellos im Morgengrauen; so sei es gerade Mode, flüsterte Lebedinski ihm zu. – Bestimmt nimmt er sich eine »Lagerfrau«, schluchzte die arme Natalja; er hatte sie betrunken gemacht, weil er nicht wusste, was er sonst für sie tun konnte. – Natürlich nicht, meine liebe Frau. Für ihn sind Sie viel zu schön, als dass er jemals, Sie wissen schon. Keine Sorge, keine Sorge … – Und da saß er wahrscheinlich schon auf einem Schiff nach, sagen wir, Kolyma. Oder hatten sie Kolyma geschlossen? – Im Stillen bereitete Schostakowitsch die Adoption der siebenjährigen Tochter des Paares vor, Witoscha. Ein Mann mit himbeerroten Stiefeln

Weitere Kostenlose Bücher