Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
Sehen Sie, die Tonika ist mir so um das Jahr 1935 abhandengekommen. Vielleicht war es auch 1934 oder 1936. Es war … Glauben Sie, dass die Seele eines Komponisten (nun, ich wollte nicht Seele sagen, das wäre, sagen wir Persönlichkeit, ein Wort, das besser in unsere, sozusagen, moderne sowjetische Epoche passt) am besten innerhalb einer bestimmten Tonart funktioniert oder, oder sogar …? Meine Tonika muss d-Moll gewesen sein, sie erinnert mich manchmal an die Ahorn- und
Lindenbäume im Sommergarten, weil ich … Aber dann habe ich sie, äh, verlegt.
    So ein Unsinn!
    Sehen Sie, ich bin verwirrt. Das will ich gerne eingestehen. Aber es war wenigstens nicht böse gemeint. Ich, ich, da stimmt etwas nicht. Und die »Lady Macbeth« spiegelt nur wider, wie …
    Nicht auszudenken, wie Ihre arme Frau sich gefühlt haben mag, als Sie ihr diesen obszönen Müll gewidmet haben.
    Sie war damals erst meine, sozusagen, Verlobte, Genosse Alexandrow …
    Aber Sie haben es ihr doch gewidmet?
    Leider, ja; das lässt sich nicht bereinigen, aber Ninas proletarischer Geist war immer stark. Die Oper hat ihr nie gefallen …
39
    Übrigens, wo ist Nina?
    Sie …
    Hier steht, Sie haben behauptet, das Thema ihrer Oper sei die Liebe. Ist das wahr?
    Sie handelt auch davon, ich, ich, wie Liebe sein könnte, wenn nicht ringsum Schlechtigkeit herrschte …
40
    Welche Schlechtigkeit meinen Sie genau?
    Äh, zum Beispiel das Hitlertum.
    Kommen Sie uns nicht so, Mitja! Als sie diesen Haufen formalistisches Geseiere abgeschlossen haben, waren die Faschisten noch nicht bei uns eingefallen.
    Nun, dann sagen wir eben das Proto-Hitlertum. Weil natürlich, der Reichstagsbrand und das alles, Sie wissen schon, der Dimitrow-Prozess … Und Sie haben völlig recht; jetzt sehe ich, dass »Lady Macbeth« nichts als ein ekelhaftes Chaos ist und nie etwas anderes sein wird; ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben, das zu erkennen …
    Die Unterhaltung lief weiter; ihre Schädelkiefer mahlten; aber er hörte nichts als sein Rattenthema, wie es sich lauter und lauter wiederholte.
    29
    Auf dem Zweiten Allunionskongress der Sowjetischen Komponisten im Jahr 1957 wurde er vollständig rehabilitiert. Galina Ustwolskaja hatte gerade ihre Sonate Nr. 4 vollendet, die aus vier attacca- Sätzen bestand, so hatte er gehört; sie hatte keine Zeit gefunden, sie ihm vorzuspielen, aber Glikmann, der offenbar viel herumkam, hatte sie schon gehört und nannte sie extrem bedrückend.
    Fotografien aus dieser Zeit zeigen ihn oft, wie er mit aufgestütztem Kopf in einem Studio auf das Weiß der Partitur starrt. Wenn er allein war, würgte er unter Gelächter heraus: O ja, meine Tonika muss d-Moll gewesen sein! Das war perfekt! Nicht einmal Glikmann hat gemerkt, dass ich … – Er war weiter so produktiv wie die Stachanow-Arbeiter in den Kohlebergwerken, die ihre Normen vierzehnfach übererfüllten. Seine Akkorde paradierten über die Partituren wie sonnengebräunte Mädel bei einem Übungsmarsch über den Roten Platz, alle in weißen Hemdchen und kurzen grauen Hosen. Manchmal waren sie sogar fröhlich, manchmal glichen sie Pfeilen, die explosionsartig auseinanderschossen und sich in einen Regenbogen aus Blüten auflösten. Bei einer Zusammenkunft mit seinen Freunden trank er zu viel und sang: Brenne Kerze, brenne hell, in Lenins rotem Ärschchen , was ihm zehn Jahre hätte einbringen können.
41 In jenem Herbst brachte seine 11. Sinfonie, die schon ein großer Erfolg gewesen war, trotz der versteckten Bezüge auf die Sowjetpanzer, die nun den Ungarnaufstand niederwalzten
42 (Was, wenn sie dich dafür aufhängen, Papa?, hatte Maxim geflüstert),
43 ihm einen Leninpreis ein – nach Chruschtschows Geheimrede gab es nämlich keinen Stalinpreis mehr. Die Kapitalisten taten sie als Programmmusik ab.
    Blasse, kalte Lichter, die schräg vom nassen Pflaster aufstiegen, lösten sich wie Kondensstreifen im Dunkel auf. Flecken aus nassem Licht, matte Strecken und Dunkelheit und dann das blasse Willkommen der Lampen in den Säulengängen der Ämter belagerten die Feierlichkeiten. Tief, tief drinnen schritt Schostakowitsch zitternd von Handschlag zu Handschlag, lächelte flattrig und trank zu viel Wodka. O, was für ein Lächeln! Er barg sich darin; er glaubte tatsächlich, dass es ihn schützte. (Die Russen, hat ein Deutscher geschrieben, sind Meister in der Konstruktion bombensicherer Feldbefestigungen aus Holz.)
44 Er lächelte. Die Menschen fanden ihn steif wie eine

Weitere Kostenlose Bücher