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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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allem anderen, denn sie hatte ihn verlassen und sie …
    Plötzlich hatte er die absurde Idee (und er wusste, dass sie absurd war), wenn er sich nur heute noch umbrächte, dann wäre es nicht zu spät, und dann würde sie wissen, dass er sie liebte, und ihn wieder aufnehmen.
    Und dabei wusste er nur zu gut, dass es Elena Konstantinowskaja war, die er liebte. Elena, du bist die Frau für mich. Oh, warum habe
ich es nicht ausgesprochen? So wie wir Frontsoldaten im Winter nur ungern unsere Schützenlöcher verlassen, weil es so schwer ist, sich im gefrorenen Boden neue zu graben, so wollte er die Ustwolskaja nicht aufgeben, besonders jetzt, da sein Penis seine welthistorische Aufgabe nicht länger erfüllen konnte; das war alles. Sie war sein äußerer Verteidigungsring und Elena war der innere. Natürlich vermisste er ihre Musik.
    Im Jahr 1959, als die Lunik auf dem Mond landete (wieder ein sowjetischer Sieg an der Wissenschaftsfront), heiratete seine Tochter. Blind, wie ein zum Untergang verurteilter Soldat, der aus seinem Schützenloch mit Handgranaten wirft, komponierte Schostakowitsch ein millionenfaches Lächeln und wünschte sich, er wäre allein und weit weg; aber er tat, als halte Nina ihm die Hand. Sie hatten ihn gebeten, etwas zu spielen, aber die Handgelenke taten ihm weh. Galja sah so glücklich aus, als sie neben ihrem frischgebackenen Gatten stand, in dessen Gegenwart er sich tölpelhaft vorkam, und er wollte einfach nur in einer Ecke sitzen, aus Angst, er könnte seinen widerlichen Schatten auf ihr Glück werfen. Glikmann schenkte ihm eifrig das Wodkaglas randvoll und flüsterte, alles laufe sehr gut.
    Was die Musik angeht, die sie will, flüsterte Schostakowitsch, da hätte an meiner Stelle besser der Große Komponist hier gesessen, der Meister selbst, du weißt, wen ich meine, das, das, dieses Schwein.
    Mein Gott, Dimitri Dimitrijewitsch! Ich flehe dich an, sieh dich vor! Dieser Mensch da drüben, wie heißt er noch?
    Nun, das ist unser lieber, sagen wir, Freund , der Genosse Alexandrow. Glänzen seine Stiefel nicht herrlich? Für ihn steht das Wohl des Proletariats immer an erster …
    Dimitri Dimitrijewitsch, er versucht, uns zu belauschen! Soll ich dich nach Hause bringen?
    Auf keinen Fall, mein lieber Isaak Dawidowitsch. Ich wollte nur anmerken, dass der Genosse Stalin ein glänzender Komponist von Orchesterfugen war. Und weißt du, wie er sie gespielt hat? Na, indem er alle Register seiner »Organe« gezogen hat, natürlich! Es tut mir leid, Isaak Dawidowitsch; ich sollte nicht so reden; ich bin einfach ein Drecksack …
    Elena Konstantinowskaja hatte ihm erzählt, dass sie während ihrer »Abwesenheit« immer von dem Klackern, Scharren und Quietschen
stählerner Schlingen am Lagerzaun im Schlaf gestört worden war, wenn die Kettenhunde hin- und herliefen und die Gefangenen ansprangen. Dieses Detail hatte er nie vergessen können. Das war es, was ihm auf Galinas Hochzeit plötzlich in den Kopf gekommen war. Sofort begann er, es in Musik zu verwandeln, denn … Nun, wie könnte er sagen warum? Dieses Klackern, Scharren und Quietschen, er würde einen Weg finden, es im Opus 110 unterzubringen.
    Nachher näherte er sich, halb betrunken oder vielleicht auch nur ein Viertel betrunken, dem eleganten rechteckigen Schaft des Hotels Leningradskaja (erbaut 1948-53) mit seinem Glockenturm, auf dem natürlich kein Kreuz, sondern ein Stern prangte. Langsam ging er immer rundherum.
    Wie schön, dass Sie unsere Einladung bekommen haben, Dimitri Dimitrijewitsch!, sagten die Männer mit den himbeerroten Stiefeln. Haben Sie den Genossen Alexandrow getroffen? Wir wollten mit Ihnen über Ihren Parteieintritt sprechen.
    Ach, natürlich, ja ja, erwiderte Schostakowitsch mit einer Stimme, so wächsern wie die Zehen einer Leiche, ich werde mich darum bewerben, sobald ich meine Sinfonie über Lenin abgeschlossen habe, versprochen. Dann habe ich, sozusagen, etwas vorzuweisen. Und vielleicht sollte ich auch ein paar Takte zur deutsch-polnischen Frage komponieren. Im Augenblick bin ich ein bloßer Wurm, wissen Sie, nur ein – sozusagen – ein Wurm. Aber …
    Hatte Ihre 7. Sinfonie nicht von Lenin handeln sollen?
    Ach je, die Siebente, also, aber damals war ich noch nicht so weit. Lenin ist, nun, ich möchte mich wirklich gründlich vorbereiten, um diesem Thema ganz gerecht werden zu können. Die Liquidierung der Klassen zum Beispiel sollte als pizzicato dargestellt werden …
    Schluss mit dem Herumgealbere. Ihre

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