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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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vergeht! Nun, sie haben ihn erschossen und nicht sie. Wer von den beiden war deiner Meinung nach der Glücklichere?
33
    Was für eine Frage!
    Sag mir wenigstens so viel, und das so ehrlich du kannst. Elena hat mir erzählt – sie hat es mit eigenen Ohren gehört! – dass sie einander ihre Gedichte sogar im Gulag auswendig vorsagen. Also ist sie ein …
Aber hat sie ihr Lebenswerk beschädigt, als sie diesen anderen Müll geschrieben hat?
    Überhaupt nicht. Wenn schon, dann hat sie es damit geschützt. Sonst hätten sie …
    Ganz bestimmt! Oh, du Engel! Aber das ist nicht mein einziger Punkt. Man tut das, damit sie einen nicht erschießen, und dann ist man … Nun, das Recht auf Kummer ist ein Privileg. Es wird nicht jedem eingeräumt!
34 Also habe ich nichts, ich wiederhole, ich habe nichts getan, um … Und Musik ist wie, nun, jedenfalls, die Frauenfrage hat noch niemand gelöst, oder, Tatjana? Nicht einmal Lenin persönlich! Ihr seltsamen Wesen! Ich …
    Jeder weiß doch, wen du liebst, Mitja. Warum heiratest du sie nicht?
    Oh, ich bin nicht gut genug für …Weißt du, ich schreibe jetzt hauptsächlich Quartette statt Sinfonien. Ich werde impotent.
    Die ganze Nacht lang blieb er wach und betrank sich mit ihr. Sie berührten einander kein einziges Mal. Am Morgen darauf ging es ihm ziemlich schrecklich. Maxim, der in jenen Tagen in der Wohnung herumhing und auf einen Ruf des Komponistenverbandes wartete, wollte sich den Film »Vietnam« ansehen gehen, von einem gewissen R. L. Karmen, aber sein Vater hatte keine Zeit, denn er war sehr, Sie wissen schon. Wirklich schrecklich, dass er keine Sekretärin hatte. Früher war immer Nina ans Telefon gegangen und hatte gesagt, er sei für zwei Monate verreist.
35 Nun, nun, Zeit zum Grübeln!
    Seine Mutter starb als Nächste. An ihrem Totenbett fand er einen Band Kurzgeschichten von Tschechow, aufgeschlagen bei dem Satz: Und daß wir in der Schwüle und Enge der Stadt leben … – ist das etwa kein Futteral?
36 Da erschrak er; er wusste nicht warum. Die Schwüle und Enge würde er ins Opus 110 einschreiben.
    28
    Im Jahr 1956, dem Jahr der »Geheimrede« Chruschtschows gegen den Stalinkult, wurde die 8. Sinfonie rehabilitiert; und in der Zeitschrift Woprosi Filosofii geißelte ein Leitartikel die Unterdrückung der »Lady Macbeth« vor zwanzig Jahren. Kollegen, Musiker und Dirigenten lehnten selbstzufrieden an seinen beiden Flügeln. Was ihn anging, er lächelte zornig, als könne er schon vor sich sehen, wie der Rest seines
Lebens sich entwickeln würde. (Wer sagt denn, dass wir die Zukunft nicht vorhersagen können? Wenn wir die deutsche Granate pfeifen hören, wird sie uns nicht treffen. Wenn sie zischt , dann aufgepasst!)
37 Der Zorn war im Grunde die leichteste Übung; was er nicht ertragen konnte, war die Angst. Er hatte noch immer einen gepackten Koffer unter dem Flügel, mit zwei Sätzen Unterwäsche. Er hatte gehört, dass man auf jeden Fall Läuse bekam. Elena hatte sich den Kopf rasieren müssen, nachdem sie freigelassen worden war; da hatte sie wirklich wie ein Sträfling ausgesehen! Und sie hatte davor immer so wunderschönes langes Haar gehabt. Er fragte sich, wie sie jetzt wohl aussah. Seine Schwester sagte, Elenas Tochter sei sehr sprachbegabt. Ein oder zwei Mal hatte er geträumt, na gut, vielleicht war es auch ein halbes Dutzend Mal, dass er vom Dach des Konservatoriums aus zusah, wie ein hilfloser russischer Scharfschütze mit kahlrasiertem Kopf von zwei Deutschen durchsucht wurde, sein Gesicht war schmutzverschmiert, von Verzweiflung gezeichnet; man würde ihn liquidieren; und als die Faschisten ihn dann an die Wand stellten, merkte er plötzlich, dass es Elena war, die sie erschießen wollten; sie war in ihrer Rotarmistenuniform nicht zu erkennen gewesen; da versuchte er zu schreien, aber dann walzte der Alptraum ihm über die Brust, so schwer, breit und metallisch wie Panzerketten. Zum Glück waren solche Belästigungen inzwischen fast restlos beseitigt. Warum konnten die ganzen Kriecher und Gefängnisaufseher an seiner statt nicht sie beschatten und ihm täglich berichten? Vielleicht war sie …
    Das Kulturministerium hatte dieses Vorspiel organisiert. Oh, er hatte geschuftet; er hatte sich vorbereitet; er hatte manch einen Takt eliminiert, der als erotisch hätte verstanden werden können oder gar als antisowjetisch; hier war das revidierte Libretto, ganz klar war es jetzt, gezähmt und getrimmt wie die Kurven einer schlanken Badenixe,

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