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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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wahre Einstellung zur Sowjetmacht ist uns genauer bekannt, als Sie sich vielleicht vorstellen können. Alles in allem, Dimitri Dimitrijewitsch, haben Sie Glück gehabt. Wir behalten Ihren Fall weiter im Blick. Damals, anno 36, haben wir Sie zum Beispiel nur deshalb nicht mit Tuchatschewski vom Sockel gestoßen, weil Ihr verhörender Offizier verhaftet worden war. Aber stellen Sie sich vor! Er ist rehabilitiert worden.
    Posthum, nicht wahr? Oder waren Sie, sozusagen …
    Was für Scherze Sie sich erlauben, Dimitri Dimitrijewitsch! Wirk
lich, manchmal möchte man fast glauben, dass jemand die Hand über Sie hält. Nun, denken Sie über unsere Worte nach. Wir erwarten volle Kooperation. Und denken Sie immer daran: Die »Organe« vergessen Sie nicht …
    In derselben Zeit wurde sein Cellokonzert Nr. 1 in Es-Dur uraufgeführt. Der letzte Satz enthielt eine Parodie auf Stalins Lieblingslied »Suliko« – so tief vergraben allerdings, dass nicht einmal Rostropowitsch, dem das Concerto gewidmet war, sie je hätte aufspüren können –, was die Herren in den himbeerroten Stiefeln auch sagten, Schostakowitsch achtete auf seinen Kopf, o ja, liebe Freunde! –, aber als sie ganz allein waren und Wodka in den Gläsern hatten, summte der Komponist sie heraus wie eine wilde Hornisse, und wie hätten sie es da nicht alle hören können? Su-li-ko! Rostropowitsch brach in Gelächter aus, aber Schostakowitsch fühlte sich schon matt, kaute an den Fingernägeln und blickte sich um. Rostropowitsch schenkte Wodka nach. Dann brach Schostakowitsch mit der sowjetischen Kulturdelegation zu einer Reise durch amerikanische Städte auf.
    30
    Im April 1960, als er, zum Zeichen seiner bevorstehenden Erhebung, zum Ersten Sekretär des Komponistenverbandes der RSFSR gewählt wurde, war Chruschtschow anwesend und dröhnte auf seine unvergleichlich vulgäre Art etwas von der guten Musik, die jeder Proletarier mitsingen könne, im Gegensatz zur bösen Musik von der intellektuellen Sorte, die klinge wie »das Krächzen von Krähen«. Alle, die in greifbarer Nähe waren, mussten natürlich den Kriecher spielen. Die Glücklicheren hatten in den dunkleren Ecken des Empfangssaals Unterschlupf gefunden. Schostakowitsch hielt sich natürlich auch in diesem Dunkel, versteckte sich fast unter seinen Kollegen, mit leerem Blick durch die Brillengläser, während auf seinen Lippen ein gequältes und ein bösartiges Lächeln einander abwechselten.
    Ein Mann im dunklen Anzug fotografierte. Sein Blitz erinnerte an die grelle Nachtbeleuchtung im Butyrka-Gefängnis. Warum sich nicht vorstellen, dass er diesem Professor Vigodski von Elena glich? Ich muss Glikmann hinschicken, damit er mir sagen kann, was der Mann, Sie wissen schon. Ich könnte ihn umbringen! Und sie haben jetzt eine
Tochter, also ist es … Unterdessen muss das schwärzeste Vakuum erobert werden; die Mission der Kosmonauten war es, amerikanische Astronauten davon abzuhalten, uns die Führung streitig zu machen. (Gleichzeitig bedrohten uns die Amerikaner auf Kuba.) Während zu diesem Thema alle mit Leidenschaft die gleiche Meinung vertraten, stand die Kakophonie nicht aufeinander abgestimmter Stimmen für die Intonationsdiskrepanzen von Ventilinstrumenten. Jetzt hatten sie ihn erspäht und kreisten ihn langsam ein. Als sie wissen wollten, ob er die totale Sowjetisierung des Weltalls befürworte, nickte er brav. Dabei machten die Planeten ihn nervös. Der Große Rote Fleck des Jupiter zum Beispiel jagte ihm Angst ein. Natürlich würden wir irgendwann den Jupiter erreichen; unsere Kosmonauten würden sozusagen die Weichsel zwingen … Zwischen seinen Ohren erklang die traurige, subtile Musik der »Lady Macbeth« – zweifellos die einzige Aufführung in ganz Russland. Dieser Rabauke Chruschtschow, er konnte ihn schon den Part jener Arbeiter singen sehen, die die fette Köchin in ein Fass gesteckt hatten und sie betatschten, ihr in die Titten kniffen und riefen: Lass uns ein bisschen saugen…! Er würde einen Weg finden, das Gift dieser Takte zu verdicken und es in Opus 110 zu injizieren. Und nun sagte der Genosse Alexandrow …
    Er hasste sie. Er hasste sie alle.
    Plötzlich kam Chruschtschows Zeigefinger auf ihn zugeschossen. Schostakowitsch lächelte erschrocken.
    Also, unser Dimitri Dimitrijewitsch hier, rief Chruschtschow aus, der … na ja, der wusste schon ganz am Anfang des Krieges Bescheid mit seiner Wienenntmandas, seiner Sinfonie.
    Schostakowitsch dachte bei sich: Er spricht mit

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