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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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vergangenen Jahren bei ihren Rückzügen angewendet hatten.
86 Das Schlimmste daran ist, das Ungeheuer hat recht. Er ist so ein … – Zurück zur Vierzehnten, und ich will gerne zugeben, dass sie mir Alpträume bereitet hat; sie stinkt wirklich nach Gruft; und doch, sie steht zu Opus 110 in derselben Beziehung wie das Zucken eines toten Frosches beim Sezieren (ein musikalisches Zucken, wie wir auch sagen könnten, oder zumindest ein rhythmisches, denn es wird nach Laune des Experimentators hervorgerufen, der prestissimo den Schaltkreis zwischen Fleisch und galvanischer Zelle öffnet und schließt) zu den tatsächlichen Todeszuckungen, nachdem wir das Reptil ins Tötungsglas gesteckt hatten. – Meine Vierzehnte, wissen Sie, sie ist mir, wissen Sie, besonders lieb geworden, weil sie böse ist und mich an meine Vergangenheit erinnert. An die Zeit zum Beispiel, als Elena, wissen Sie, da hatte sie ihre, ihre, und auch an die Zeit, als die deutschen Faschisten den Katharinenpalast zerstört haben. Ich habe vergessen, das im Opus 110 unterzubringen … – Was dieses Werk angeht (zehn Schlaginstrumente, neun Streicher, zwei Solostimmen), gaben wichtige Persönlichkeiten der Musikwelt zu bedenken, dass sein sinfonischer Konflikt nie zu einer dialektischen Auflösung gelange – was bedeutet, dass es ihm an Passagen in Dur mangelt.
    Er starrte auf die Klaviertasten herab, die seine uralten schmerzenden Klauenhände nicht länger zärtlich streicheln konnten, und dankte
uns für die Kritik unter Genossen; o ja, er dankte uns in Worten so schillernd wie die eisig funkelnden Leichen, die einst die Straßen Leningrads geschmückt. – Und wahrlich, ich, nun, das ist gar keine Frage. In meiner nächsten Sinfonie werde ich alles genau nach Ihren Vorschlägen ändern! Wenn wir in der Umsetzung dieser Maßnahmen zu feige sind, wird dieeinschreiten. Diese Geigenpartie, die Ihnen nicht gefällt, ich werde dem Orchester sagen, sie so schnell zu spielen, dass das Publikum sie gar nicht erst hört! Außerdem werde ich, äh, jeder Takt wird dialektisch aufgelöst, das garantiere ich Ihnen! Wie mit einem Suchscheinwerfer ! – Aber er machte sich nur über sie lustig, wie üblich. Ist nächtliches Flak-Feuer nicht auch ein in reine und zarte Linien aus Licht eingeschriebenes Lied der Dunkelheit, vergleichbar den Strahlen aus vierundzwanzigkarätigem Gold, die der erhitzte Griffel des Buchbinders für immer in den schwarzen Lederdeckel des Buches der Nacht eingraviert, wenn er mit ausreichend präziser Spontaneität über den abgemessenen Streifen Folie gezogen wird?
    In einem weiten volkseigenen Hausflur betrank er sich unter einem Messingleuchter und flüsterte Glikmann zu: Sie reden von diesem neuen, diesem, diesem Kulturaustausch! Na, gab es den bei uns nicht schon immer? Wir malen unsere Gefangenentransporter schwarz an und sie malen sie grün an!
    Mein lieber, lieber Dimitri Dimitrijewitsch, um Himmels willen, was redest du? Bitte sei vorsichtig …
    Oder sind die grünen Minnas mit dem Deutschen Reich untergegangen? Vielleicht transportieren sie die Gefangenen jetzt in Schulbussen …
    Sie? Von wem redest du?
    Na, von uns allen. Lang lebe das, sozusagen, Vaterland!
    Dimitri Dimitrijewitsch, Tag und Nacht sorge ich mich um dein Glück.
    Danke. Danke!
    Und ich muss dir etwas Wichtiges sagen.
    Ja, mein Freund, sagte Schostakowitsch voller Panik, und seine Finger huschten durch den ganzen Raum. Worum geht es?
    Erinnerst du dich noch, dass du mich vor vielen Jahren gebeten hast …
    Nein, nein! Bitte nicht …
    Und nach unserer letzten Begegnung, als du in Tränen ausgebrochen bist …
    Das bin ich nicht !
    Ich schwöre dir …
    Du hast also mein Vertrauen missbraucht, willst du mir das sagen?
    Als du geweint hast, hast du mich gebeten, zu ihr zu gehen und …
    Hast du es ihr gesagt? Wie konntest du nur?
    Sie hat mich immer wieder gefragt, Dimitri Dimitrijewitsch. Also habe ich es ihr gesagt, weil …
    Weil …?
    Mein lieber Dimitri Dimitrijewitsch, ich rate dir, deine gegenwärtige Lage zu ändern, denn du bist nicht glücklich. Es ist noch immer nicht zu spät, um …
    Bitte behalte deinen Rat für dich, mein lieber, lieber Isaak Dawidowitsch!
    Mit verzweifeltem und gedemütigtem Lächeln sagte Glikmann leise: Daran merkt man, dass du verliebt bist. Verliebte nehmen von ihren Freunden nämlich nie Rat an. Erst bitten sie darum und nehmen ihn nicht an, und dann sind sie ganz beleidigt, wenn ihre Freunde, die ihnen

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