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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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schmutzig verwaschene Weiß der dürren Kinderbeine, die samtige Unschärfe dessen, was die gemeißelte Kannelierung von Säulen an den Fassaden unscharfer, noch nicht ausgebombter Kaufhäuser hätte sein sollen. Das perverse Argument gewisser linker »Experten«, das Filmmaterial der Vierzigerjahre sei in sich körniger gewesen als das heutige, wurde durch eine Studie der Central Intelligence Agency widerlegt, die nitratbasierte nazisowjetische Dokumentarfilme unter höchster Vergrößerung mit den heutigen Farbfilmen verglich. [ 46 ] Wie Adams gezeigt hatte: Körnung ist ein grundlegendes Merkmal der Wirklichkeit selbst.
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    Nichtsdestotrotz, eine Besonderheit muss man den grauen alten Tagen lassen: Kohärenz. So wie ein Gedicht seine Wirkung durch eine enge Wahlanwendung innerhalb einer weiten Ausschlussanwendung erzielt (das Wort, das ich brauche, kann keines der Tausende sein, die sich nicht auf grau reimen), so hatte Europa auf seine schaurige Weise Vollkommenheit erlangt, bewohnt von Wesen mit großporigem Silberteint. Wie waren meine Eltern, als sie jung waren? Heute ist ihr Haar silberfarben. Natürlich war es das schon immer; sie haben vor Erfindung der Farbe Braun geheiratet. Sie haben vergleichsweise Glück gehabt; mein Vater wuchs im Ultraweiß der Winter von Chicago auf; meine Mutter hatte ihre grauen Weizenfelder Nebraskas. In Europa war die Tonwertskala deutlich schroffer. Welcher Insasse jenes Kontinents durfte auf mehr hoffen als darauf, ein flüchtender, schlanker Zivilist in einem tintenschwarzen Anzug zu sein oder einer der vielen Männer in Winter-Tarnkleidung auf einem Panzer, das schwarze Geschützrohr über dem Schnee im Anschlag? Ein paar Millionen Seelen wurden ordensgeschmückte mattgraue russische Soldatenmädchen mit mittelgrauen Pelzmützen; wir sehen sie in jenem spektakulären Propagandafilm mit dem Titel »Der Fall von Berlin« zu Schostakowitschs Musik gen Westen marschieren. Als Chruschtschow Anfang 1961 in der Sowjetgesellschaft das Rot einführte, um dem Unternehmen Polaroid zuvorzukommen, war der Erfolg so durchschlagend, dass alle folgenden Orden entweder purpur- oder blutrot zu sein hatten, aber im Krieg waren natürlich noch alle Abzeichen grau, was mir im Grunde passend erscheint, denn es handelte sich um einen trostlosen grauen Krieg gefrorener Leichen; gefrorenes Blut wird schwarz; Rot wäre deplatziert gewesen. Die dürren bleichen Jungen, die die runden Magazine der Maschinenpistolen zusammensetzen, welche andere Farbe hätte zu ihnen gepasst als Totenweiß? Zwischen den Spiegelungen langer weißer Militärkolonnen, die sich in der Newa wanden, und dem schwarzen Tröpfeln der Menschen, die Tag für Tag auf den eisglatten Straßen Leningrads vergingen, waren nur zwei Zonen erforderlich: Ultrafeldgrau, wie es vom gedrungenen Dunkel über den Ketten der Panzerkampfwagen verkörpert wird (insbesondere des PzKpfw III -F), und Eisgrau, die Farbe jener stalinistischen Spruchbänder, an denen die Panzer vorbeifuhren, der Spruchbänder, auf denen stand:
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    Er erhob sich vom Bett, stand nackt und schlaksig da und sah zu, wie in dem graugetönten Raum sein Atem fror. Er trat ans Fenster. Gähnend kratzte er sich ein kleines Rund in die Eisblumen. Durch dieses Guckloch sah er genau, was er erwartet hatte: mattgraue Kriegsschiffe im Eis.
    Er sah Männer in trüben Wintermänteln, graue Wollmützen auf den Köpfen, die Hände in den Taschen und Gewehre unter die Arme geklemmt, die Läufe gerade nach oben gerichtet, Schulter an Schulter, um sich zu wärmen, und die Militärkapelle spielte dazu. Dann setzten sie sich in Marsch. Weiße Schlangen aus Schneelicht flatterten über sie hinweg, während sie unter rhythmischen Zuckungen in der Unschärfe verschwanden.
    Er sah das Eis auf dem Straßenpflaster schimmern und glänzen.
    Er lächelte. (Weiße Streifen – Kratzer auf dem Kriegsfilm – zuckten ihm über das Gesicht.) Glücklicher würde er nie sein, denn die Frau im Bett war seine Geliebte, Elena Konstantinowskaja, und sie liebte ihn trotz allem immer noch.
    Ein großer Komponist (denn das war er) beklagt nicht das Fehlen von Grau zwischen den weißen und schwarzen Tasten des Flügels. Er hatte ja seine Grautöne, drei kräftige russische Schattierungen für jede Gelegenheit. – Zwei Zonen, wie ich eben schrieb, aber ihr verdanken wir die dritte. Die folgenden drei Grautöne finden sich zwischen Schwarz und Weiß, von dunkel bis hell: das Schiefergrau der Schamhaarlocken der

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