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also Musik.
Er sagte ihr: Danke für all das Glück, das du mir geschenkt hast.
Sie küsste ihn leidenschaftlich. Seine Musik wurde so müde wie die Augen der Käthe Kollwitz.
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Er konnte sie sozusagen vom Blatt spielen; er wusste, wie er ihr das Gefühl geben konnte, als spiele ein ganzes Orchester. (Und spielte etwa keines?) Als er älter wurde, verlor er diese Fähigkeit, etwa um die Zeit, als die Berliner Mauer errichtet wurde; Frauen fingen an zu klagen, dieser Schostakowitsch verfüge über kein erotisches Einfühlungsvermögen – einer der Gründe, aus denen G. Ustwolskaja sich 1954 weigern würde, ihn zu heiraten. Da führte er schon Selbstgespräche; nach Ninas Tod pflegte er zu sagen, zum Flügel, glaube ich: Ach je, ach ja, Elena; wenn es so nicht funktioniert, dann lassen wir es vielleicht lieber und versuchen, na ja, solche Fehler beim nächsten Mal zu vermeiden, wenn wir mit einer, einer, tut mir leid. Das ist nur meine, wie soll ich sagen, meine persönliche Meinung. – Aber im Jahr 1934 hatte er noch nichts eingebüßt, weder Mut noch Selbstvertrauen, von Integrität ganz zu schweigen; im Jahr 1935 sprühte er noch vor Witz; Elena musste immerzu lachen! Sie zählte darauf, dass er sie bei Laune hielt; das war einer seiner zahllosen Wege, ihr seine Liebe zu zeigen; das, was ich Geschichte nenne, ließ ihn unberührt, was mir Anlass gibt zu versichern, dass der Blick in die Zukunft so nutzlos ist wie die Beobachtung, dass das dritte Thema des vierten Satzes von Opus 40 in der Partitur weniger rund wirkt als das zweite Thema des ersten Satzes.
4 Aber in die Zukunft blicken und dann für Vorausschau halten, was man sich zu sehen einbildet, gehört zu den schönen Dingen im Leben; gewiss kam es ihnen beiden so vor (und wie hätte es anders sein können?), als würden sie mit jedem Kuss Zukunft trinken.
Er küsste sie wieder und wieder und wurde trunken davon. Rund um die beiden herum schlängelten sich die matten grauen und grau-rosa Hausfassaden Leningrads an den Windungen der Kanäle entlang. Noch ein Kuss, Ljalotschka! Wenn er langsam mit dem Finger in sie hinein und wieder aus ihr herausglitt, stieß sie aus tiefster Kehle leise Schnalzlaute aus, mit vor Ekstase geschlossenen Augen.
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Das Ausmaß seiner Vernarrtheit in diese junge Frau (die im Übrigen noch immer ein angesehenes Mitglied des Komsomol war – obwohl sie Zigaretten rauchte) lässt sich am besten verdeutlichen, wenn man erzählt, wie er im Juni, drei Wochen nach Beginn ihrer Affäre, zu einer
Konzerttournee aufbrechen musste; im Juli traf er Nina in Jalta und machte dann mit ihr in Polenewo Urlaub, wo der Cellist W. Kubatzki sich seiner Verzweiflung erbarmte und ihn bekniete, sich mit einer neuen Sonate abzulenken, und schon im Monat darauf, ein paar Tage nach ihrer Rückkehr nach Leningrad, zog Nina aus, worauf ihr Gatte in Tränen ausbrach und rief: Es ist völlig überflüssig, den, den, wie soll ich das ausdrücken, Ninuscha, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und … Dann eilte er davon zu einem weiteren Konzert mit Elena Konstantinowskaja.
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Das war am 13. August. Er spazierte durch die große Allee im Alexanderpark, nur um, Sie verstehen, über Elena nachdenken zu können. Am 19. September hatte er den vierten Satz des Opus 40 schon vollendet, denn er konnte nicht anders, er musste, wie soll ich sagen, herumwerkeln;
5 schon als kleiner Junge hatte er nie stillsitzen können, weshalb seine Mutter, na, egal. Elena weinte, als er ihr die Partitur auf seinem Flügel vorspielte: In Herzensangelegenheiten, meine Freunde, gehört fortgesetztes Weinen meist zur, nun ja, Hintergrundmusik. Am 10. März 1935 ließ er seinen engsten Vertrauten Sollertinski wissen, dass er vielleicht nie wieder nach Leningrad zurückkehren werde; er konnte sich inzwischen ein Leben mit Elena in Moskau vorstellen, wo wir in einem gewissen, Sie wissen schon, leben werden, mit zwei Mal vier Kammern. Seine Mutter hatte Nina sowieso nie gemocht – nicht, dass Elena ihr viel besser gefallen hätte, aber seine Schwester Marjuscha vergötterte sie. In Moskau können wir alles hinter uns lassen; wir fangen ganz von vorne an, und ich werde Nina nie wiedersehen. Und tatsächlich zeigte er L. T. Atowmian in Moskau seine Scheidungsurkunde.
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Und Nina? Nun, was soll schon mit ihr sein? Die verstorbene S. Chentowa, deren Buch Udiwitelnyj Schostakowitsch (1993) vierundvierzig Briefe Schostakowitschs an Elena enthält, wenn auch mit Auslassungen,
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