Europe Central
bleichen Gesichtern und erfrorenen Händen der Moskowiter entfalten, die aus den Lautsprechern auf der Straße hörten, dass die deutschen Faschisten ka
men. Da fuhren die Menschen in Polen schon durch die Schornsteine himmelwärts. Aber davor, ja, davor machte der Sommer seine süßen sattgrünen Versprechungen. Ich kann mich noch sehr gut an Warschau erinnern; ich sehe die sanften gelben Säulen und die Statuen der Kirche Mariä Himmelfahrt noch vor mir. Eine dieser Statuen, dem Aussehen nach ein Prophet, streckte den Arm in die Höhe, um die Säule zu streicheln, die aus demselben pudrigen gelben Material bestand wie er; alles war eine Kerze, zum Anzünden bereit.
Unternehmen Barbarossa
»Darum stirbt dieser junge Gott immer früh, an einen Baum genagelt, der eigentlich die Mutter ist. Das mütterliche Prinzip, das ihm Leben gab, schluckt ihn zurück in die negative Form, und Häßlichkeit wie auch Tod ereilen ihn. … An diesem Punkt ziehen einige es vor, durch einen Unfall oder im Krieg zu sterben, statt alt zu werden.«
– Marie-Louise von Franz (1995)
1
Am Abend vor dem Spiel von Dynamo hätte er glücklich sein müssen, denn Fußball war seine einzige Erholung, abgesehen von der Musik; außerdem hatte Nina ihm, bevor sie sich zur Nacht in ihr Zimmer zurückzog, erzählt, die Schebalina habe ihr beim Anstehen nach Zucker zugeflüstert, alles werde vergeben; die arme Ninuscha, die immer so willensstark gewesen war, glaubte es sogar; sie beglückwünschte ihn geradezu; und er hätte ihr ins Gesicht gelacht, wäre sie nicht so offensichtlich von dem Glauben erfüllt gewesen, ihr Leben werde nun endlich, wie soll ich sagen, schöner und freudvoller werden; kurz, er hätte glücklich sein müssen, aber in jener Nacht träumte ihm, Nina habe kein Gesicht, oder eher: Ihr Gesicht sei eine schwarze Scheibe aus Bakelit, perforiert von kreisförmig angeordneten, vollendet gerundeten Löchern; ja, seine Frau hatte sich in ein monströses Telefon verwandelt; und er erwachte in einem seiner Angstzustände, die hinter der anderen Tür nie jemanden störten, weil er nicht schrie, nicht einmal ächzte. Was war das für ein Geräusch? Er würde es in das Opus 110 aufnehmen. Er stand auf und sah nach seiner Familie. Was war das für ein Geräusch? Mit arglos dargebotenem Kehlkopf, die beiden kleinen Köpfe an die Brust gebettet, lag sie da und schnarchte piano, forte , piano, forte , freudlos das früh gealterte Gesicht; ihr Mundgeruch war schlimm; seit Wochen klagte sie über einen entzündeten Zahn. Er hätte lieber E. E. Konstantinowskaja geheiratet, aber nun war Nina die Mutter seiner Kinder; und sie stand ihm gegen seine Feinde treu zur Seite, und das waren alle, bis ganz hinauf zu diesem, na ja, diesem Schwein . Fünf
Jahre ging das nun schon so. Kamen sie erst einmal ihn holen, würde allein das ihnen rechtlich erlauben, beim nächsten Mal sie mitzunehmen. Das wusste Nina, aber sie wollte sich nicht von ihm scheiden lassen. Sie liebte ihn, ohne ihn zu verstehen, was vielleicht die edelste Form der Liebe ist.
Er zog sich ins Bett zurück und stürzte wieder in einen Alptraum, durchbrochen von elektrischen Impulsen, so wie sein Leben bald von Leuchtspurgeschossen durchzuckt werden würde, und da war Nina wieder, ragte bedrohlich über ihm auf, schrie ihn mit dieser unmenschlichen elektrischen Stimme an, dieser singenden Stimme, dieser Musik, wollte ich sagen; es musste Musik sein, was ihrem runden, schwarzen, grausam vogelartigen Gesicht entströmte! Aber als er aufwachte, schien seine Stimmung von einer Art Impulswahlverfahren neu eingestellt worden zu sein: Er spürte, dass sich etwas Ungeheures und Erhebendes ereignen würde. Und so war es: das Dynamo-Spiel!
Erst im Leninstadion gelang es ihm, den Mund zu öffnen und zu schreien, richtig zu schreien – und hier sollte ich anmerken, dass nur er das, was er tat, für Schreien gehalten hätte; er ließ sich nie so sehr gehen wie W. W. Lebedjew; er zischte bei einem Foulspiel höchstens Rowdys!, aber selbst das bereitete ihm größtes Vergnügen. Er war wegen Peki Dementijew für Dynamo, der wegen seiner Eleganz allseits »die Ballerina« gerufen wurde.
Einst hatte er Elena Konstantinowskaja zu einem Spiel Zenit gegen Spartak begleitet, also Leningrad gegen Moskau; sie weinte die ganze Zeit, weil er ihr soeben mitgeteilt hatte, dass er bei Nina bleiben müsse, einer Schwangerschaft wegen, die sich später als Scheinschwangerschaft entpuppte. Sie trugen beide das
Weitere Kostenlose Bücher