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ganzen Religionsmülls wegen. Ich habe ein Exemplar vor mir, und dem Deckblatt nach ist er im März 1914 erschienen, als ich noch vorwiegend das erledigte, was man am besten mit Laufarbeit beschreibt. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass ich damals kein einfaches Leben hatte. Aber wer denkt schon an mich? Im Jahr 1914 hasste ich alle Orthodoxen. Als wir in den Zwanzigern die Priester vor Gericht brachten, verhärtete meine Einstellung sich über den Hass hinaus; ich war der Meinung, schon allein der Besitz von Rosenkranz genüge für ein Todesurteil. Aber die Religiosität dieser beiden armseligen Frauen fand ich beinahe entwaffnend.
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Bei der Verhaftung von Gumiljow stießen wir im Arbeitszimmer auf einen alten Band Masaryk. Ich berichte gern und ohne jede Scham, dass ich auf der Suche nach Randnotizen das eine oder andere über mein Land daraus lernte. Zum Thema Dostojewski schreibt er: Nicht Christus, der russische Christus ist sein Idol. Ich begriff sofort, dass dies auch die Position der Achmatowa anschaulich machte. Und ehrlich gesagt sind selbst ergebene Stalinisten wie ich tief in unserem Herzen stolz, Russen zu sein, auch wenn wir es nicht immer zeigen können. Die weltweite Verschwörung der Priester gegen das Volk, wir müssen sie natürlich ausmerzen. Aber wenn Achmatowas Christus ein russischer Christus ist, warum soll man sie ihren Abschiedskuss für Ihn nicht noch ein wenig in die Länge ziehen lassen? Wenn sie Glück hat, wird sie vor Ihm sterben.
Masaryk sagt auch, der russische Atheismus sei kein positivistischer Agnostizismus, sondern ein galliger Skeptizismus, der sich an seiner Selbstzerfleischung labt.
17 Da gebe ich ihm recht. Wann immer ich mir einen Priester vorgenommen habe (sagen wir, ihm Wunden geschlagen habe), bin ich besonders schlechtgelaunt nach Hause gekommen. Aber als die Achmatowa und die Tschukowskaja sich nun zum Beten hinknieten,
verspürte ich weniger Ekel, als ich erwartet hätte. Das spricht für meine Fairness und Neutralität.
Außerdem bin ich Kunstliebhaber.
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All dies soll nur zu jener Tatsache hinführen, für die ich mich nicht im Mindesten schäme, die ich aber aus offensichtlichen Gründen nicht jedem eingestehen würde: Eines eiskalten Dezembernachmittags (um vier Uhr, es war schon stockfinster), als die Achmatowa sich gerade in vorsichtig fröhlicher Stimmung befand, weil wir an diesem Tag auf meine Instruktionen hin ihr Päckchen angenommen hatten (Pjotr Alexejewitsch war an der Reihe, es mit nach Hause zu nehmen, nicht dass die Päckchen der Achmatowa uns je tolle Leckereien geboten hätten), und die Tschukowskaja nutzte diesen Erfolg, ihr Orakel nach Erläuterungen zu »Nah am Meer« zu befragen – sie schien über M. Schaginjan davon gehört zu haben, deren Akte mir nicht geläufig war, aber deren Bekanntschaften sie in verdächtiger Nähe zu antisowjetischen Kreisen zu zeigen schienen –, übermannte mich aufrichtige Freude, denn dies war mein Lieblingsgedicht. Und eine Viertelstunde später, als die Achmatowa sich, zitternd in ihrem schwarzen Morgenmantel mit dem silbernen Drachen auf dem Rücken, überreden ließ, das Gedicht zum Vortrag zu bringen, konnte ich mein Glück kaum fassen; dann fing sie an: Ins flache Ufer waren Buchten geschnitten. Und mein Herz jubelte.
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Im Sommer 1914, als die Romanows, von Mystizismus und falschen Bündnissen verblendet, Russland immer näher an den Rand des Krieges führten, befand Gumiljow sich im zweiten Jahr seiner Affäre mit der jungen T. Adamowitscha, die ihn heiraten wollte und der er seinen neuesten Gedichtband widmete, den kein Mensch gründlicher gelesen hat als ich. Seit seiner Afrikareise wurde er, wie ich aus der Lektüre seiner Tagebücher weiß, ständig von Alpträumen über die Zukunft geplagt. In einem Traum, an den ich ihn in seinem Verhör erinnerte, sprach man ihn der Beteiligung an einer Palastrevolution in Abessinien
schuldig; nach seiner eigenen Enthauptung beklatschte er mit blutigen Händen die Einfalt und Güte des ganzen Vorgangs.
18 In Tanjas Armen träumte ihm natürlich anderes. Was die Achmatowa anging – mit dem gemeinsamen Kind in Slepnjowo allein gelassen (nicht dass sie nicht schon ihre sogenannte »Freundschaft« mit N. Nedobrowo unterhalten hätte), lag sie auf dem Sofa und schrieb »Nah am Meer«. So ein Parasit!
Die Vorstellung, dass es eine »Seele« gibt, die in der Poesie ihren Ausdruck findet, ist lange endgültig widerlegt; und dennoch ist »Nah am Meer«
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