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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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unsagbar Anziehendes. Er konnte sich beinahe vorstellen, eine seiner eigenen Orchesterpartituren dort oben segeln zu sehen, was wirklich ziemlich, Sie wissen schon, gewesen wäre. Nicht dass er sich wünschte, zerrissen, verstreut, zerschnitten und dann zu Rauten zusammengeklebt zu werden, wirklich nicht! Aber warum nicht ein rautenförmiges Konzert oder Trio komponieren, das schon fliegen konnte? War dies nicht das Land der Revolution, musste man nicht Neuerungen einführen, um die Revolution nicht zu entweihen?
    In den Jahren, in denen Stalins Gehilfen damit beschäftigt waren, Millionen von ukrainischen Kulaken auszurotten, brachte Schostakowitsch seine Zeit am Leningrader Theater der Arbeiterjugend herum und versuchte sich an proletarischer Kunst. Blasse, jungenhafte Finger glitten aus den dunklen Ärmeln, berührten das Klavier und ließen Musik sich ereignen. Er meinte es wirklich gut. Stetig blickte er durch seine runden Brillengläser auf die Partitur, obwohl er das nie nötig hatte. Die Musiker rund um ihn herum, die Geigen wie Gewehrkolben an die Schultern gestemmt, blickten in ihre privaten Abgründe aus Schmerz, Entdeckerfreude oder Glück. Was ihn angeht, er verlor sich in jeder der Welten, die er schuf. Ein Jahrzehnt lang quälte ihn die Tuberkulose, aber nie hat ihn jemand klagen gehört. Schlank, förmlich, beinahe elegant (obwohl er nie lernte, sich mit Würde zu verbeugen) produzierte er seine makellosen Klänge. Wenn andere ihm helfen wollten, hörte er höflich zu. – Hier könnte ein Pizzicato noch wirkungsvoller sein, Dimitri Dimitrijewitsch, sagten sie. – Ja, ja, ja! , erwiderte er mit schmeichleri
schem Lächeln. Sie haben recht! Ein Pizzicato wäre eine entscheidende, äh, Verbesserung. Aber bitte spielen Sie es nur dieses eine Mal arco  … – Arco hatte er es geschrieben.
    Im Jahr 1929 begruben sie seine Musik für den Stummfilm »Das neue Babylon« schon nach ein paar Aufführungen – nicht aus politischen oder künstlerischen Gründen, wie man ihm versicherte, sondern weil sie sich für die schlecht ausgebildeten Kinoorchester als zu schwierig erwiesen hatte. Er konnte sich noch an seine Unglückszeit im »Lichten Band« erinnern und glaubte gern, dass das Niveau in den Filmtheatern niedrig war; außerdem verlangte sein Ego nur, dass er mit jeder Muse schlafen konnte, die er begehrte, wie immer er es begehrte, und nicht, dass die Welt seine Nachkommenschaft bewunderte. Sich gut zu verkaufen war ihm nicht wichtig. Wenn sie ihn nicht verstanden oder sogar, wie soll ich sagen, falsche Eindrücke verbreiteten, egal, Mitja war trotzdem frei; Mitja war glücklich! Wenn sie »Das neue Babylon« ablehnten, war das nicht sein Untergang, denn er hätte in zwei Stunden eine neue Filmmusik schreiben können! Wollten sie das? – Eigentlich nicht, mein lieber Dimitri Dimitrijewitsch, es hat sogar (es tut uns leid, das sagen zu müssen) Beschwerden gegeben; die Menschen hören lieber N. M. Strelnikows Operette »Das Bauernmädchen«. – Das war unserem Junggenie egal. Vor Sollertinski, der kaum je Krawatte trug und inzwischen sein bester Freund geworden war, scherzte er: Die Widerstände eines Orchesters zu überwinden, ist die Sache von geborenen Diktatoren!
9  – Sollertinski setzte sich die Mütze schief auf wie ein Matrose unserer Baltischen Flotte, schlug die Hacken zusammen und rief: Jawohl, mein Führer!, und dann betranken die beiden sich. Sie beschlossen, gemeinsam Diktatoren zu werden; nie würden sie jemanden auch nur eine einzige Note ändern lassen! Da gab es eine Fünfzehnjährige, von der Sollertinski gehört hatte; vom Verhalten her älter; sie hieß Elena und war eine echte Geheimwaffe, das kann ich dir sagen, äußerlich ganz ruhig und … – aber gerade in diesem Augenblick stolzierte mit hoch erhobener Nase Anna Achmatowa vorbei, und es war so verlockend, sich (obwohl sie beide ihre Gedichte bewunderten) hinter ihrem Rücken über sie lustig zu machen, dass sie diese Elena völlig vergaßen.
    Ich denke, man wird Mitja nicht verleumden, wenn man feststellt, dass er der Welt seine Zugeständnisse machte, um seiner finanziellen
Unabhängigkeit, seines Ansehens und vor allem um seiner Freiheit willen, jederzeit zur geheimen Quelle in seinem Innenohr hinabtauchen zu dürfen, auf der Jagd nach jener Schönheit, die allein sein Leben bestimmte. Zum Beispiel komponierte er nun gelegentlich Programmmusik. Das war auch nichts anderes als das Begleiten von Stummfilmen im

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