Europe Central
Unschuldslamm er doch noch war!) versuchte er, den Aktivisten in ihren dunklen, plattnasigen Propagandalastern Paroli zu bieten. Sollertinski hatte ihm beigebracht, schicke Kasbek-Zigaretten zu rauchen. Er bot sie allen an, aber die Aktivisten verzogen das Gesicht und lehnten ab. Warum hatten sie sich so? Zum zehnten Mal wies er darauf hin, dass sein Großvater in Sibirien ein Umstürzler gewesen sei, und außerdem, wenn seine beste Musik keiner anderen glich, sei das für den Staat umso mehr ein Grund, sie zu pflegen. Leider hatte der Genosse Stalin befohlen, nur Musik zu veröffentlichen, die explizit auf Parteilinie lag.
4
Seine Freunde rieten ihm, sich abzusichern. Wolle er seinen Aufstieg denn nicht fortsetzen? Sie sagten: Du musst den Wölfen etwas hinwerfen, und sei es ein alter Knochen! Keine Sorge, Dimitri Dimitrijewitsch; es geht um ein rein rhetorisches Opfer …
Malko, sein früherer Mentor, war nun in die kapitalistische Zone ausgewandert. Die Partei konnte ihm also nichts mehr anhaben. Obendrein hatte Schostakowitsch ihn nie respektiert. Mit zusammengebissenen Zähnen schrieb er einen Brief an den Proletarischen Musiker und prangerte sich dafür an, Malko erlaubt zu haben, einen Foxtrott von Schostakowitsch zu dirigieren. So leichte Musik sollte (wie er demütig vorbrachte) mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, denn es handle sich dabei um gefährliche bourgeoise Unterwanderung.
Natürlich schämte er sich. Wie auch anders? Seine Gönner erinnerten ihn aber daran, dass er Malko nicht geschadet hatte, dass Malko (der ihm nie verzieh) die Bedingungen vor Ort nicht verstehen könne und dass er das Schlimmste verhindert habe, indem er sich der herrschenden Meinung unterwarf, bevor man solche Unterwerfung von ihm verlangte.
Das Schlimmste?, fragte er und verzog die Mädchenlippen zu einem Schmollmund. Und was soll das sein?
Davon wollen wir nicht einmal reden, Dimitri Dimitrijewitsch! Übrigens, stimmt es, dass Nina Warsar ein Auge auf Sie geworfen hat? Sie ist ein sehr entschlossenes Mädchen, habe ich gehört. Wenn sie wirklich etwas haben will, dann …
All diesen Vorkehrungen zum Trotz war seine 3. Sinfonie, die er umsichtigerweise »Zum 1. Mai« betitelte, offenen Angriffen ausgesetzt. Alle mahnten ihn zur Vorsicht, aber er fuhr sich mit den Fingern durch die Locken und lachte. Noch immer verfügte er über ein tiefgestaffeltes Selbstbewusstsein.
Im Jahr 1931 komponierte er die Musik für N. P. Akimows temporeiche Hamlet- Verfilmung, für die man die meisten Monologe herausgekürzt hatte, um die Massen nicht abzulenken. Es hieß, der Auftrag sei ihm so leicht gefallen, dass er den größten Teil während der Halbzeit im Lenin-Stadion komponiert habe. Einmal, bei einem besonders spektakulären Spielzug von Dynamo, sprang er so verrückt auf und ab, dass ihm die Partitur aus der Tasche flog! Im Handumdrehen hatte er alles neu geschrieben. Das phallische Satyrspiel der Flötenszene – eine Erfin
dung des Komponisten, wie es heißt – wurde berühmt-berüchtigt. Um sich einen Spaß zu machen, erzählte er der New York Times: Und so halten wir Skrjabin für unseren ärgsten musikalischen Feind. Warum? Weil Skrjabins Musik zu einer krankhaften Erotik neigt.
11 Dann eilte er zu Tatjana Gliwenko ins Bett.
Wir sprengten die Christ-Erlöser-Kathedrale in die Luft – wieder ein Sieg über die Reaktion. Wir stellten noch mehr Menschewiken vor Gericht und verlangten ihre Erschießung; es stand in allen Zeitungen. Konterrevolutionäre legten vor Gericht Geständnisse ab, und dann verschwanden sie. – Na ja, sagten Schostakowitschs Freunde, vielleicht sind sie ja wirklich schuldig.
Im gleichen Jahr erlebte sein Ballett »Der Bolzen« seine Uraufführung, es handelte von Industriesabotage. Ein Kritiker von Rabotschii i Teatr schrieb, die Reaktion der Menschen auf derart irregeleitete Unterhaltung sollte dem Komponisten als letzte Warnung dienen.
12
5
Die verlässlichste Quelle für diese Periode ist natürlich unsere Große Sowjetische Enzyklopädie , die feststellt: In den Dreißigerjahren machte die sowjetische Musikkultur bemerkenswerte Fortschritte. Ihr Umbau wurde im Wesentlichen abgeschlossen.
13 Selbst jetzt weigerte Schostakowitsch sich noch zu begreifen, dass er umgebaut werden musste. Allen guten Ratschlägen zum Trotz tat er weiter so, als wäre das Urteil in Rabotschii i Teatr nur das Grummeln eines Kritikers gewesen und nicht ein Wink der staatlichen »Organe«. Wie sollte er
Weitere Kostenlose Bücher