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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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irgendeinem Grund, einen, einen, sozusagen, einen Steifen … – Lange vor der Dämmerung an einem Wintermorgen erspähte Mitja die Menschen, wie sie sich aufgeregt unter dem steinernen Vordach des Kirow-Theaters drängten, obwohl das Theater natürlich noch nicht so hieß; Kirow war noch am Leben; alte Frauen, auf schmerzenden Füßen humpelnd, großgewachsene Männer mit Pelzmützen, Studenten, Intellektuelle. Sie studierten die Spielpläne in den Glaskästen und warteten, dass sie ihre Karten für die »Nase« kaufen konnten. – Ich bitte um Vergebung, sagte er zu den Aktivisten, die ihm seine Fehler aufzeigen wollten. »Die Nase« war bloß, sagen wir, bloß ein Vorspiel! Warten Sie, bis Sie sehen, was ich … Ich meine, nun, da Sie mich erleuchtet haben, werde ich mich in all meinen folgenden Opern viel enger an die Parteilinie halten … – Die Aktivisten waren zufrieden. Andererseits, was, wenn es sarkastisch gemeint war? In ganz Leningrad (einer von ihren Kanälen in halbautonome Zonen zerschnittenen Stadt) hieß es, er und seine Freunde gehörten zu jener Fraktion, die die sogenannte »künstlerische Freiheit« zum Fetisch erhebe. Das waren die halbwilden Tage der Achmatowa; sogar Mandelstam durfte noch singen. Aber Mitja, von ru
heloser Verletzlichkeit durchdrungen, wirkte dank seiner Unbeholfenheit so unsicher, dass er gefügig sein musste. Die ihm Wohlgesonnenen am Konservatorium berieten ihn weiter zu seinem Besten und dachten, sie müssten verrückt werden, als trotzdem jede Note seine eigene blieb. Frauen begingen ähnliche Fehler. Weil er so leidenschaftlich liebte, glaubten sie, ihn zur Treue verführen zu können. Ich habe gelesen, dass er sich oft sehnsuchts- und reuevoll an seinen Sommer der freien Liebe mit der mannbaren Tatjana Gliwenko erinnerte. Sie hatte die Arme ausgebreitet wie die Doppelstriche, die aufsteigende Noten in dieselbe Geschwindigkeit einschließen, und ihn Mitjenka gerufen. In ihren Orgasmen hatte er sie coloratura stöhnen hören. Hell und für immer wollte sie ihn nehmen, aber weil er sich nicht in eine einzige Tonart sperren lassen mochte, wich er ihr aus, bis sie einen anderen heiratete. Danach versuchte er, sie zurückzugewinnen. Diese Phase endete erst, als ihr Ehemann sie geschwängert hatte. Da stürzte Mitja in eine wirre Düsternis.
    Nennen wir ihn einen Solisten. Hätte er nur in grauer Vorzeit gelebt (und natürlich: wäre er blaublütig gewesen), was für ein Leben hätte er sich komponieren können! Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, so habe ich gelesen, stand es allen führenden Sinfonikern frei, mit ihrer Virtuosität zu prahlen, indem sie gegen Ende des letzten Satzes eine cadenza improvisierten. Beethoven war der erste Komponist, der diese Freiheit abschaffte. Er schrieb alle Kadenzen selbst. Lenin und Stalin führten noch strengere Regeln ein; denn um die Revolution abzusichern, brauchen wir Festigkeit, kein Abweichlertum. Genosse L. Kaganowitsch hat den Ton vorgegeben: Wenn der Fabrikdirektor die Fabrik betritt, muss der Boden erzittern.
7 Der Proletarische Musiker schrieb währenddessen, wenn Schostakowitsch nicht zugeben könne, dass seine Arbeit eine falsche Wendung genommen habe, dann wird sie unweigerlich in einer Sackgasse landen.
8 Aber das wollte er nicht einsehen, obwohl er in seinen Zeitungsinterviews pflichtschuldig herbetete: Selbstverständlich, ich, ich, natürlich hat alle Musik unweigerlich eine politische Tendenz … – Dunkles Haar fiel ihm über die Stirn, in einer Locke wie eine Meereswelle. Die Begabung, die ihm so rein aus dem Herzen sprudelte, berauschte ihn. Sie bereitete ihm so große Freude, dass er fand – armer Junge! –, es stehe ihm zu, sein Genie auf eigene Weise zu pflegen. Aber die schwarzen Hofkutschen des alten Regimes
waren geflohen und ihre roten Laternen waren für immer erloschen. Keine Dissonanz vor dem Grundakkord der gemeinsamen Sache!
    2
    Als er aus dem Fenster des Konservatoriums blickte, sah er einen Trupp diebisch vergnügter Jungen über den Theaterplatz gelaufen kommen. Sie ließen einen Drachen steigen, den ihnen ein paar Komsomolzen aus Bibelseiten gebastelt hatten (beschlagnahmt vielleicht im Smolny-Konvent). Als sie hoch in der Luft über den jungen Gesichtern herumtanzten, sahen die ausgemalten Majuskeln und kräftigen alten Buchstaben in Kirchenslawisch eher fröhlich als albern aus. Für Mitja, der Religion immer für einen Witz gehalten hatte, war an dem Schauspiel etwas nahezu

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