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ratsam geworden waren, bezeugten seinen Glauben: Der Zweck heiligt die Mittel. Kurz bevor er sich verbeugte, flüsterte er Sollertinski ins Ohr: Rutschka, rutschka. Er hätte nicht zufriedener sein können. Nach jedem Konzert wurde in seiner Wohnung an der Ni
kolajewskajastraße gefeiert, Schostakowitsch spielte Klavier, die Gäste tanzten, brachten laut Trinksprüche aus und flirteten mit seiner Mutter, zerschlugen Gläser, stritten darum, was es bedeutete, wahrhaft russisch zu sein oder wie man etwas von Mussorgski retten könnte (gegen Ende seines Lebens würde Schostakowitsch die »Lieder und Tänze des Todes« des Komponisten neu orchestrieren); und während die Welt weiter um ihn herumwirbelte und deren Bewohner tranken, bis die letzte Straßenbahn kam, verabredete Schostakowitsch sich mit dem neuesten Mädchen und stellte dabei gern Sollertinskis Talent zur Schau, dreisprachige Wortwitze auf Zuruf zu produzieren. Meyerhold kam vorbei, damit seine eingebildete Frau Sinaida vor allen herumstolzieren konnte, Rodtschenko hatte eine Idee für eine neue Fotocollage, I. D. Glikmann war dort, bot prominentengeil seine Dienste an und rückte dem Komponisten die Krawatte zurecht, und ich glaube, auch Lew Lebedinski könnte dabei gewesen sein; seine Schwester Marija zerlegte den letzten Räucherfisch und bat alle, doch zu essen, Sinaida schalt Meyerhold, weil er sich ein zu großes Filetstück genommen hatte, Sollertinski erzählte noch einen Achmatowa-Witz, Schostakowitsch legte den Kopf schief, blinzelte hinter seinen blitzblanken Brillengläsern, und dann waren sie endlich fort, und seine Mutter saß fröhlich schnarchend im Lehnsessel. Leise klappte er den Flügel zu. Dann spazierte er mit langen Spinnenfingern, die, anders als der Rest seines Körpers, nüchtern geblieben waren, über das Notenpapier. Eines Tages würde er eine Passage komponieren, die sogar noch besser sein würde als das »Schicksalsmotiv« in Beethovens Fünfter; er hangelte sich höher und höher! Kalte musikalische Tricks waren ihm in jenen Tagen unbekannt; die Musik schoss ihm in freudigen Orgasmen aus den Fingerspitzen; was einem jungen Künstler an Handwerk fehlt, macht er oft durch Aufrichtigkeit wett; selbst wo die Regeln Zurückhaltung verlangen, kann er nicht anders und muss etwas von sich selbst geben. Deshalb erweist sich die frühe Kinomusik Schostakowitschs der späteren oft als überlegen – auch wenn keine der beiden an das »Schicksalsmotiv« heranreicht. Als Antwort auf Lenins Spruch Weniger ist mehr gab er allen Ohrwurm-Melodien in Dur, die nun aus seinen Grimassen und seinem Grinsen hervorquollen, ein immer wieder, immer lauter mit .
So eilte er dahin wie ein musikalischer Laufbursche, der sich sein Geld verdienen musste, und zwinkerte dabei mit einem Eulenauge. Er
hielt die Welt zum Narren, und wie fröhlich alles weiterging! (Mitja zu Glikmann, das Radio auf volle Lautstärke gedreht, damit niemand mithören konnte: Schippern also Stalin, das Politbüro und die ganzen anderen hohen Tiere die Wolga hinab, auf einem großen, du weißt schon, Dampfer, der plötzlich, wahrscheinlich wegen trotzkistischer, äh, Saboteure, zu sinken anfängt. Wenn er sofort untergeht, wer wird dann gerettet? Komm schon Isaak Dawidowitsch, der ist einfach: Das Volk der UdSSR !)
10 Deutsches Humptata, Märsche, Gemütlichkeit allüberall, anschwellender Paukenherzschlag sausten mit einer von allen Selbstzweifeln befreiten Frische auf die Notenblätter. Selbst wenn er nur mit verschränkten Armen in der ersten Reihe saß, ein schüchternes Lächeln im Gesicht, stand unser selbstzufriedener junger Komponist auf der Bühne seiner Träume. Seine Mutter war noch immer stolz auf ihn und sein Lebenslauf war unbefleckt. Glasunow, Malko und andere Leuchten bestärkten ihn in seiner Kraft. Noch nicht angekränkelt von dem, was wir aus diplomatischen Gründen weiterhin »die Welt« nennen wollen, bewahrte er seinen Absichten eine so große Reinheit, dass kein verirrter Gaskanister seine geheimen Harmoniebunker vergiften konnte. Bumm! Tatjana Gliwenko stöhnte wieder, schloss die Augen und hoffte, dass ihr Mann nichts merken würde. Als das Genie sein Gesicht auf das ihre senkte, wurden ihre langen schwarzen Wimpern zu zwölf Oktaven auf dem Klavier.
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»Das neue Babylon« war ihm egal, wie gesagt. Aber im Jahr darauf starb seine Musik für das Ballett »Das goldene Zeitalter« eines ähnlich verfrühten Todes. Am Rande der Verzweiflung (was für ein
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