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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Vorwürfen der Unreife und Groteskerie begegnete er mit der üblichen unerbittlichen Höflichkeit. – Ein höchst origineller Ansatz, sagte der Dirigent N. Malko. Vom instrumentalen Gesichtspunkt her so verdichtet wie Kammermusik. Es wäre den Philharmonikern eine Ehre, sie zu spielen, Mitja.
6  – Unser Wunderkind wand sich und hielt den Blick starr auf das Klavier gesenkt. – Aber da gibt es noch eine Kleinigkeit, fuhr Malko fort. Ob Sie mir noch einmal das Finale vorspielen könnten? … Wie ich es mir gedacht habe. Sie spielen sehr präzise, junger Mann, nach den Noten. Das ist gut. Aber das Tempo dieses Finales ist unerreichbar
schnell. – Der Junge lächelte und rollte mit den Eulenaugen. – Wenigstens diese Änderung werden Sie uns also zugestehen, Mitja? Wir gehen in die Proben, Sie verstehen, und … – Ja, Genosse Dirigent, ich verspreche Ihnen, dass ich Ihren Rat in meiner nächsten Sinfonie beherzigen werde … – Völlig problemlos spielten die Musiker das Finale, wie es geschrieben stand.
    Am Tag der Uraufführung zeigte Schostakowitsch nicht die mindeste Aufregung, abgesehen von einem Zittern im linken Bein. Er ging in die Bibliothek und las etwas über das Paarungsverhalten der Insekten. Seinem Freund I. Sollertinski schlug er, wie üblich schelmisch bis an die Grenzen des Anstößigen, vor, einen »Tanz der Scheiße« zu orchestrieren. An der Löwenbrücke flirtete er mit einem Mädchen namens Tatjana Gliwenko. Genauer gesagt, er erklärte ihr, sie sei eine Lyra mit Schmollmund und Krebszangen, und er sehne sich danach, von ihr gekniffen zu werden, während er ihr die Saiten kitzelte – die korrekte Herangehensweise offenbar, denn sie leistete ihm bis hin zum Newski-Prospekt Gesellschaft. Nach drei Küssen blickte er auf die Uhr. Sie küssten sich zum Abschied; dann erlaubte er ihr, ihm den Schal zu richten und die Jacke bis oben hin zuzuknöpfen. Dann musste er sich beeilen, und zwar richtig, um nicht zu spät im Großen Saal der Philharmonie zu sein (den man später nach ihm benennen würde), was seine Würde verletzt hätte. Lachend sah Tatjana ihm nach und wirkte nicht sehr verlassen. Dass er pünktlich auf die Minute eintraf, muss nicht extra gesagt werden. Malko, dem der Junge sich schon überlegen fühlte, musste ihm jetzt seinen eigenen Gürtel leihen und ihm mit Zahnpulver die Schuhe weißen. Dann eilte Mitja vor den Spiegel. Er blies die Backen auf, nur zum Spaß. Noch siebenundzwanzig Minuten zu vertrödeln! Malko sagte ihm immer wieder, er müsse nicht aufgeregt sein. Dabei dachte er an Tatjana Gliwenko, die wirklich, wahrhaftig, Sie wissen schon. Malko zog ihm den Schlips gerade. Sechsundzwanzig Minuten. Er war zufrieden mit dem Eindruck, den er machte, und versuchte, das Orchester damit zu necken, dass er so tat, als wolle er das Finale noch schneller gespielt haben. (Nun, er weiß eindeutig genau, was er will, bemerkte der Dirigent und lächelte. Umso besser, wie man sagen muss! Unsere Proben haben bestätigt, dass sein Konzept aufgeht.) Dann war es Zeit, die Plätze einzunehmen. – Alles wird gut, sagte Malko, und Mitja, dem plötzlich übel wurde, nickte, ohne die Miene zu verziehen.
    Ovation folgte auf Ovation! Was seine Mutter gesagt hat, weiß ich nicht, aber der Rest war verzaubert; als Zugabe mussten sie das Scherzo noch einmal spielen …
    Danach wurden Mitjas harmonische Experimente nur umso waghalsiger, bis an den Rand des Obszönen, wie bei seiner ersten Oper »Die Nase« (op. 15) – »nicht zufällig« wurde gerade sie als Beispiel formalistischer Dekadenz denunziert. Bumm! Da ist die Nase selbst, unter einem Zylinder, sitzt im Schneidersitz unter einer Nackten wie von Modigliani und singt. – Tatjana lachte so heftig, dass sie sich fast übergeben musste. Dann zog sie Mitja ins Bett und nannte ihn ihr kleines Genie. Vielleicht war sie nicht die Einzige. Aber er musste jetzt weglaufen; er hatte ein Interview mit dem Proletarischen Musiker . Ob er der Öffentlichkeit bitte seine Intentionen erläutern könne? – Nun, kicherte Mitja, ich gebe ihnen ein wenig, Sie wissen schon, warum denn nicht? Ich meine, ich, ich, na ja, nehmen sie nur Rodtschenkos Raumkonstruktionen, das sind ja, äh, Sperrholzroboter! Und da soll ich nicht schrullig sein dürfen? Er bekommt keine Konsequenzen zu spüren. Diese sogenannten »ungegenständlichen Skulpturen« sind wirklich … Da gibt es eine, die hebt ihren Arm wie ein Eisenbahnsignal, da bekomme ich aus

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