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Arbeit gehört hatte; in mehr als mancher Hinsicht sollte er seiner verzärtelten Kindheit nie entwachsen. Sollertinski warnte sie, er trinke viel, und sie erwiderte: Das musst du mir nicht sagen!
Was Opus 40 angeht, sollten wir anmerken, dass es in den Monaten seiner ehebrecherischen Affäre mit der Dolmetscherin E. E. Konstantinowskaja entstand und die Melodien die emotionale und erotische Unbeständigkeit dieser Affäre widerspiegeln. (Sie schlief in seinen Armen. Er lag da und lauschte dem Wind.) Elena liebte ihn ohne jede Hoffnung, obwohl seine Scheidung von Nina schon durch war. Er zitterte und zauderte. Und nun noch eine Englischstunde; spielen wir das Kussspiel; sammeln wir Lindenblätter auf den Wegen von Zarskoje Selo! All das ist wirklich sehr … Aus riesigen dunklen Augen blickte sie ihn an. Sie gab ihm das Gefühl, wie soll ich sagen, jedenfalls, das war nicht wichtig; dies hätte nie passieren dürfen, denn … Je öfter er sie sah, desto schmerzhafter wurde es und desto mehr sehnte er sich nach ihr, obwohl es natürlich noch andere Frauen geben würde; er musste sozusagen der Partitur folgen. Einstweilen heiratete er Nina wieder, des ungeborenen Kindes wegen.
Die Prawda nahm sich seine Musik für das Ballett »Der helle Bach« vor und prangerte sie an. Inzwischen waren zur Vergeltung für die Kirow-Affäre schon vierzigtausend Leningrader verhaftet worden. Altbolschewiken, Ingenieure, Generäle, Kommissare, Bauern, Künstler, Ärzte,
Studenten, ganze Familien wurden weggekarrt. Man stellte besser keine Fragen. Glikmann nahm ihn mit auf den Abort, drehte das Wasser auf und flüsterte ihm ins Ohr, er habe vier Gefangenenlaster in einer Kolonne in Richtung der Sümpfe fahren sehen, wo der Genosse Kirow immer Enten geschossen habe. Die Straße ende dort. Schostakowitsch legte Glikmann die Hände um das Ohr und antwortete: Das nennt man, du weißt schon, Dialektik. – Ehrlich gesagt konnte er nicht glauben, was er eben gehört hatte. Es ergab keinen Sinn, dass jemand so, Sie wissen schon, war.
Auch Elena Konstantinowskaja wurde in einem Gefangenenlaster spazierengefahren, und niemand erfuhr je den Grund. Sie hatte ein unglaubliches Glück; nach einem Jahr ließ man sie frei. In seinen Alpträumen schrie sie und schrie, Contralto.
7
Anfang 1936 bestellte man ihn nach Moskau, wo er einer Vorstellung seiner Oper »Lady Macbeth von Mzensk« beiwohnen sollte. So eine Vorladung konnte nichts anderes bedeuten als die Anwesenheit des Genossen Stalin. Schostakowitsch fuhr sich mit zwei Fingern durch die Tolle. Er gab seiner schwangeren Frau einen Abschiedskuss, nahm seine Aktentasche und bestieg den Moskau-Express. Dunkel hingen die Stromleitungen vor den Schneewehen, als der Zug nach Südosten rumpelte. Fast hätte man das Rumpeln mit gedämpften Paukenschlägen wiedergeben können. Mit vor Eifer zuckendem Mund dachte er bei sich: Was für köstliche Dummheiten ich zu hören bekommen werde! Diese, diese Schmieranten , die sich Götter der Kunst schimpfen, die … – Er konnte es kaum erwarten, wieder in Leningrad zu sein und Sollertinski alles zu erzählen. Schließlich hatte er allen Grund, davon auszugehen, dass er endlich belohnt werden würde. Anfang des Monats hatte sein Kollege I. I. Dscherschinski (wir dürfen ihn nicht seinen Rivalen nennen, denn der immer großzügige Schostakowitsch hatte ihm bei der Orchestrierung geholfen) sich in den mittleren Takten des eindeutig mittelmäßigen »Still fließt der Don« plötzlich neben Stalin wiedergefunden. Stalin gratulierte ihm. Und jetzt wagte es niemand mehr, Dscherschinski etwas zu verweigern! Nina war der Meinung gewesen, dass Dscherschinski ein gutes Wort für ihn eingelegt haben müs
se, falls er überhaupt zu Dankbarkeit fähig war. Und warum auch nicht? »Lady Macbeth« war zwei Jahre zuvor in Leningrad uraufgeführt und über eine halbe Stunde lang »hysterisch« beklatscht worden; die Oper hatte dreiundachtzig ausverkaufte Vorstellungen erlebt. Sie war sogar in kapitalistischen Ländern aufgeführt worden. – Das hat nichts zu bedeuten, sagte er im Scherz zu Nina, sie wollen nur, nur sehen, ob die Oper mit meinem größten Werk mithalten kann, dem »Lied vom Gegenplan« … Der Musikwissenschaftler D. Schitomirski, der die »Nase« angegriffen hatte, fühlte sich genötigt, an der »Lady Macbeth« die brillante Darstellung »der Verzweiflung einer verlorenen Seele« zu preisen, obwohl er sein Lob umsichtigerweise bis 1990
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