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schreibt seine Schwester Marijuscha ihrer Tante: Unser größter Fehler war, dass wir ihn so vergöttert haben. Aber ich bereue nichts. Schließlich ist er jetzt doch ein wirklich großer Mann. Offen gesagt, er ist ein sehr schwieriger Mensch …
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1934 wählte man ihn zum Deputierten des Oktoberbezirks von Leningrad. Er träumte, man habe ihn nach Moskau berufen.
Gegen Ende dieses Jahres fiel der Genosse Kirow dem Attentat des internationalistischen trotzkistischen Blocks zum Opfer (oder, folgt man den kapitalistischen Historikern, dem des Genossen Stalin), und die großen Schauprozesse begannen. Unser Frischvermählter glaubte noch immer, dass man ihn nicht anrühren werde, so lange er sich nur aus der Politik heraushielt. Aber seinem naiven Wunschdenken zum Trotz machte die sowjetische Musikkultur weiterhin bemerkenswerte Fortschritte. Die giftige Flut stand ihm bis an die Füße.
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Jetzt war er gebrandmarkt, auch wenn er es nicht merkte. Seine kostbare Eitelkeit hatte sich in verschlossenen Trotz verwandelt, und er kämpfte weiter um Absicherung. Angestrengt beobachtete er alles durch seine dicken Brillengläser. Ich habe gelesen, dass sein Babyspeck ihn noch ein klein wenig länger schützte und sein sarkastischstes Grinsen in etwas fahl Verschwommenes abmilderte, so dass man ihm nichts nachweisen konnte. Unter dieser schneeweißen Rüstung aus Fleisch befestigte er seine Unschuld hinter den Sandburg-Wällen dissonanter Abstraktionen weiter. Bei Frauen spielte er (wie Sollertinski es ausdrückte) weiter die Oktave , was bedeutete, dass er in den Herzen verschiedener Eroberungen die gleiche Note anschlagen konnte, gerade so wie ein Pianist das Fis zweimal zugleich anschlagen kann, acht Noten voneinander entfernt. Aber das tat er nur, um, wie soll ich das sagen, über die Runden zu kommen; denn die Einsamkeit des geheimen Ortes, den er bewohnte, ließ ihn frösteln; nicht einmal Sollertinski konnte das verstehen; Glikmann und Lebedinski, die nach Sollertinskis Tod seine engsten Freunde wurden, hatten nicht den Hauch einer Ahnung von der Welt unter den schwarzen Tasten. Einmal versuchte er, mit so vielen Mezzosopranistinnen zu schlafen, wie er konnte; ihre üppigen Seufzer verliehen seiner Musik eine besondere Fülle. Wie heißt es noch in dem Gedicht von Baudelaire? Weil ich, wissen Sie, seit Elena und ich getrennte Wege gehen, kann ich nicht mehr richtig, ich kann ja kein Französisch lesen, sie dagegen, jedenfalls, da gab es ein paar Zeilen, ich glaube, es ging um Maß und Spaß, etwas ganz Ruhiges, Langsames, Sinnliches und, und, ich weiß nicht wie man, es war wohl einfach völlig egozentrisch, aber wie Elenas Hand, die mir langsam den Rücken hinabstreicht. Ruhig, verschwenderisch, sinnlich , ich glaube, an diese Worte kann ich mich auch erinnern, aber heutzutage klingt das viel zu, ich meine, ich möchte das lieber nicht nachprüfen; ich glaube, ich fühle mich, was ist das richtige Wort?, desillusioniert. Kurz, Schostakowitsch war nicht mehr im Takt mit der Zeit. Seine Kompositionen waren nicht sehr, Sie wissen schon. Nina, die ihn, all ihrem Jähzorn zum Trotz, immer lieben und ihm immer vergeben würde, warnte ihn, dass er einen schlechten Eindruck mache, aber er konnte einfach nicht an sich halten! Eine Melodie explodierte in seinem Kopf, verstehen Sie, und er musste sie aufschreiben! Die Noten, mit denen er das Fremdartige erkundete, schlichen sich auf die Notenlinien der Partituren wie Schatten
risse, die mit flachen Mützen, die Gewehre im Anschlag, durch Lücken im Stacheldrahtverhau krochen. Er weigerte sich beharrlich, von den Liedern, die alle anderen singen mussten, mehr aufzunehmen als eine vage Vorstellung. Egal, hatte sein »Gegenplan« nicht einen Sieg errungen? Das würden sie ihm doch nicht vergessen!
Im Jahr 1935, als der Genosse Stalin Zwölfjährige hinrichten ließ und die Achmatowa schrieb, k ein Dichter ohne Henker und Richtplatz könne auf Erden sein,
17 erregte seine Cellosonate in d-Moll (op. 40) den Zorn der verblüfften Obrigkeit. Dennoch erhielt Glikmanns Bruder Gawril den Auftrag, für die Leningrader Philharmonie eine Schostakowitschbüste anzufertigen. Wenn das so war, argumentierte das Modell, warum bekam er dann nicht, Sie wissen schon, besonders da er ja sowieso schon an Schlaflosigkeit gelitten hatte. Sie nannten ihn den Kandinsky der Musik, den Rodtschenko der Musik.
18 Ganz bewusst schirmte Nina ihn gegen die furchterregendsten Gerüchte ab, die sie auf der
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