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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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denn auch weiterleben können, ohne seine ureigenen Eulengesänge herauszuheulen? (Die Achmatowa schrieb derweil in ihrer verbotenen Lyrik: Unvergleichliche Schönheiten zanken sich hier / um das Privileg, Henker zu ehelichen.)
14 Zeit, sich ein Nest zu bauen! Im Mittelpunkt des rechteckigen Schneckenhauses des Konservatoriums, wo er in der Vergangenheit studiert hatte und in der Zukunft lehren würde, baute unsere blasse Made sich hinter einem Flügel auf, nach allen Seiten von den nach außen gerichteten Rohren der Tuben, Trompeten und Waldhörner geschützt; deren Benutzer wiederum nahmen Wohnung in dem kollektiven Stachelschwein, dessen Stacheln die Bögen der Streicher waren. Dann kamen die grauen Mauern, vier Stockwerke hoch, geschmückt
mit den Flachreliefs von Kränzen und ab und zu einer Leier. Dann die Hecken. Rund herum beschrieben Häuser die Umrisslinien der schräggestellten Raute des Theaterplatzes: das Kirow-Theater natürlich, wo bald seine berüchtigte »Lady Macbeth« uraufgeführt werden würde; die klotzigen Labyrinthe auf dem Weg zum Rimski-Korsakow-Prospekt, die Wohnhausfassaden, die sich am Kanal entlangschlängelten, und schließlich die ummauerten Höfe des Jussupow-Palastes, wo Rasputin sein vierfach schreckliches Ende gefunden hatte. Aber all dies stellte lediglich die inneren Verteidigungsanlagen des D. D. Schostakowitsch dar. Der Theaterplatz befindet sich im Südwesten einer langen Insel, umgeben von den Zusammenflüssen der Mojka, des Gribojedowa-Kanals und dann des Krjukow-Kanals, der wieder auf die Mojka stößt. Und das ist noch nicht alles, denn die Insel ist eingebettet in eine größere, die vom Zusammenfluss zweier Wasserbögen gebildet wird: der Newa und der Fontanka (Letztere führt uns zur Wohnung der Achmatowa). Hier befindet sich das eigentliche Zentrum Leningrads. Hier umschließt und beschützt uns die Stadt. Eines Tages wird es einen weiteren Kreis geben, dessen einwärts gerichtetes Unheil uns zwingen wird, die Fenster zu verdunkeln. Ihre Vierhundertundzwanzig-Millimeter-Eisenbahngeschütze werden eine Schussweite von fünfundzwanzig Kilometern aufweisen. Sie werden große Tafeln aufstellen:. Die Front wird das Ballhaus des Todes sein, wo Belagerer und Belagerte in einem schalen Kontertanz erstarren. Aber diese Vorahnungen mit den Erstickungsgefühlen, die sie mit sich brachten, blieben für Schostakowitsch inakzeptabel. Mit anderen Worten, sowohl die Musik, die er so sehr liebte, als auch die nützliche Melodienseide, die er so spinnenschnell spann, schienen für ihn noch immer im selben Ganzen zu koexistieren. In seinen Alpträumen erhaschte er flüchtige Blicke auf manches; und die Musik (die reinste Musik zumindest) hüllte sich in Traurigkeit. Egal. So war er eben. Und obwohl es immer öfter hieß, dieser altkluge Intellektuelle mit seiner elitären Überheblichkeit werde niemals Lieder mit der Massenwirkung von zum Beispiel K. I. Listows »Unser Maschinengewehr-Wägelchen« komponieren, klang im Jahr 1932 Schostakowitschs »Lied vom Gegenplan« (op. 33) ständig von des Volkes Lippen wider. Die Menschen in der Straßenbahn sein Lied summen zu hören, machte ihn glücklich, es war für ihn so, als würde er die Zunge einrollen, um mit seinen Kumpeln beim
Fußball zu pfeifen und zu johlen. Behäbig, fröhlich, militärmarschartig kam der »Gegenplan« mit Hallo und Hurra daher, als ginge es wirklich mit uns allen wohin; gefühlige Holzbläser im Wechsel mit herrlich pompösen Blechbläsern. Die gleichen Wichtigtuer, die ihn immer zur Vorsicht gemahnt hatten, sagten ihm jetzt, er habe an der Kulturfront einen neuen Sieg errungen! Sogar den Kapitalisten gefiel das Lied; sie schrieben es für einen Hollywoodfilm um. [ 20 ]
    Dies war das Jahr, als er die Physikerin Nina Warsar heiratete. (Selbst da versuchte er noch verzweifelt, Tatjana Gliwenko davon zu überzeugen, mit ihm durchzubrennen.) Nina, die ihr Leben lang versuchte, ihn vor der Welt zu beschützen, sang er ein lauwarmes Erotikon.
    Sie war selbst Sängerin gewesen, aus Liebhaberei. Er gewöhnte ihr schnell ab, in seiner Gegenwart unvollkommene Laute von sich zu geben. Sie waren nicht glücklich. Sein weiches blasses Gesicht war inzwischen ein wenig voller geworden und strahlte mehr Selbstbewusstsein und Entschlossenheit aus denn je. Seine Augen, von den Linsen der dunklen runden Brille vergrößert, nahmen wach und nervös ihre Umgebung auf, manchmal mit einem Stich ins Traurige.
    Kurz nach der Hochzeit

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