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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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mich bedrohen, so viel sie wollen. Vielleicht werden sie nicht wirklich – aber auch wenn sie mir drohen, ich schreibe die Musik, die mir gefällt.
    Wie edelmütig, sagte sie und blickte auf seine zuckenden Hände herab. Und was ist mit deiner Familie?
    Ninuscha, du weißt doch, so habe ich es nicht gemeint.
    Was versteckst du da für ein Buch unter dem Kissen?
    Ach, das ist – siehst du? Bloß eine Mappe mit Zeitungsausschnitten. Glikmann war so nett, sie zu, na ja, vergangenen Monat habe ich angefangen, sie zu sammeln, um meine Fehler zu erkennen, sozusagen. Aber weißt du, ich kann keine entdecken.
    Und stammelnd fing er wieder an, die ganze Oper nach Dingen durchzugehen, die man als ungehörig hätte auslegen können. (Ninas doppelter Schatten an der Decke erschreckte ihn.) War es die Erpressung durch die Polizei im dritten Akt, die man als Spitze gegen unsere Sicherheitsorgane deuten konnte? Dann wiederum hatte der Genosse Stalin als vielbeschäftigter Mann vielleicht die Ironie im Amen übersehen, das die Arbeiter singen, wenn Katerinas Schwiegervater, von ihr vergiftet, seinen bösen Geist aufgibt. (Gut möglich, nimmt man den Furor unseres gegenwärtigen Kampfes gegen die Religion, dass man nie Amen sagen sollte, auch nicht im Scherz. Dieser Gedanke war ihm eben erst gekommen. Endlich war Mitja erwachsen geworden.) Als er sich der Musik zuwandte, sorgte er sich um die sadistisch-sardonischen Klänge der Peitschenhiebe, die auf Sergejs Rücken treffen, während Katerina, die hilflos vom Fenster aus zusieht, mit jedem Schlag aufschreit. Das könnte jemand falsch verstehen. Vielleicht hätte man die abstrakten Chromatik des ersten Zwischenspiels abmildern sollen …
    Machst du Witze?, sagte Nina. Es ist die ganze Oper, die ihnen gegen den Strich geht! Aber ich bin froh, dass du merkst (fuhr sie sarkastisch fort), dass den »Organen« deine Anprangerung der Korruption bei der Polizei vielleicht nicht gefällt und dass die Führungsspitze in diesen unseren Zeiten vielleicht, nur ganz vielleicht, nicht begeistert ist, dass du zwei Priester und ein Gespenst eingebaut hast …
    Glikmann und seine Frau wollen uns besuchen. Glaubst du, du kannst etwas vorbereiten, falls es nicht zu viel für dich ist in deinem, du weißt schon? Ich hatte gehofft, vielleicht …
    Du hast mich nicht verstanden, und ich gehe zu Bett. Du glaubst, dass du weißt, was ich rede, also hörst du nicht einmal zu. Ich bin nicht gegen dich, Mitja, das weißt du. Aber nur weil alle dir raten, dich ein bisschen mehr einzufügen …
    Aber …
    O Mitja, bitte sieh dich vor. Was soll ich denn ohne dich machen?
    Er träumte, dass Männer in glänzenden Schaftstiefeln ihn nachts abholen kamen.
    10
    Seine Ex-Geliebte Konstantinowskaja war eben aus jenen Gegenden zurückgekehrt, deren Name nicht genannt werden durfte. Er ging ihr gratulieren. (Als er sie wieder verließ, drehte sie sich mit dem Gesicht zur Wand.) Er sagte: Na, Elena, siehst du, was für ein Glück es ist, dass du mich nicht geheiratet hast …
27
    Aber darüber wollte sie nicht reden. Sie sagte nur: Es tut mir so leid, das mit »Lady Macbeth«.
    Darf ich dir etwas sagen, Liebes? Im Grunde habe ich … nun, natürlich hattest du an jenem Ort keine Gelegenheit, meine Oper kennenzulernen. Dann bist du, wenn ich so sagen darf, nicht vertraut mit dem letzten Akt. Das ehebrecherische Liebespaar sitzt im Gefängnis und …
    Sie hatte ihn so liebevoll angeblickt; er wusste, dass sie ihn liebte, und würde es immer wissen; sie liebte ihn mehr als irgendjemand sonst, also hinderten ihn natürlich die Umstände daran, sie zu heiraten, nicht dass er nicht, sozusagen, die Möglichkeit erwogen hätte, sie – nun, die Wahrheit war die, dass er Nacht für Nacht versucht hatte, sozusagen die Partitur seines Lebens zu komponieren, die sich unnachgiebig zwischen Elena und Nina gabelte, so dass er immerzu träumte, ihm sitze ein Schneidezahn locker, und im Traum spiele er unentschlossen daran herum, bis er ihn schließlich in der Hand hielt und mit dem Zahn einen seltsamen langen Knochen, der ihm Angst einjagte – oh, er wagte nicht mehr an jenem Zahn herumzuspielen! –, und nun erhob sie sich, nackt von der Hüfte abwärts, stellte sich an das vereiste Fenster und zündete sich noch eine Kasbek-Zigarette mit Pappmundstück an.
    Und weißt du, ich habe an uns gedacht. Deshalb wollte ich das Publikum daran erinnern, dass Gefangene arme Schweine sind, die unser Mitleid verdienen, und man

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