Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
bisschen saugen! , während sie transchromatisch weinte: Oh! Oh! Oh! Oh! Unruhig ruckelte er auf seinem Platz hin und her
und las an allen Zuschauergesichtern ab, was er dort zu finden gehofft hatte, nämlich weder Belustigung noch Ekel, sondern empörtes Mitleid. In der anstößigen dritten Szene, in der Katerina Ismailowa sich langsam entkleidet, die langen Haare öffnet und schmalzig von ihrer Sehnsucht nach einem Mann singt, der ihr die zarte Brust streichelt oder ihr wenigstens zulächelt, entdeckte er in den Blicken seiner Sitznachbarn Zärtlichkeit – ja, er hatte es ihnen allen gezeigt!
    Es gibt den Begriff des Portamento , der sich auf das Schleifen oder Verändern der Singstimme bezieht. Das nahte nun, aber Mitja hörte es noch nicht, denn die Streicher wurden süß und voll, ganz wie sie sollten, und verströmten einen herrlichen Duft nach amouröser »Exotik«. Dann die Verführung, halb eine Vergewaltigung – kalt, zornig und blechern, mit höhnisch laszivem Oh! und Ach! der Blechbläser, bis Sergej fertig war und mit einem hässlich welkenden Glissando Katerinas Langeweile zurückkehrte.
    Dabei war die Musik wunderschön  – so weich wie die Mulden an Elena Konstantinowskajas Hals …
    Am Ende würde es, so vermutete er, eine Zugabe geben, und dann würde man ihn hinauf in die Regierungsloge führen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er sagen sollte. Nina hatte ihm geraten, zu lächeln, den Kopf zu senken und einen leisen Dank zu murmeln. – Haben Sie alles, was Sie brauchen?, würde Stalin fragen. Schostakowitsch brauchte alles Mögliche, aber Sollertinski, Glikmann, seine Mutter und Nina hatten ihm alle geraten, zu erwidern, es fehle ihm wirklich an nichts. Das würde dem Genossen Stalin schmeicheln …
    Geduldig wartete Schostakowitsch den pseudo-wagnerianischen Abschied des heimlichen Liebespaars im Zweiten Akt hindurch, und noch immer wurde er nicht hinaufgerufen, was er seltsam fand. Mit den ersten Worten des dritten Aktes schien Sergej direkt seinen Schöpfer anzusprechen, als er Katerina Ismailowna ansang: Was stehst du hier so? Was schaust du so? – Sie hielt ihren Blick dabei auf den Keller gerichtet, wo die Leiche ihres Gatten versteckt lag. Und Schostakowitsch wand sich unruhig auf seinem Platz und versuchte, nicht zur Regierungsloge hinaufzublicken.
    Am Ende des dritten Aktes standen Stalin, Molotow und die anderen Würdenträger in der Regierungsloge auf und zogen sich zurück, schweigend, was nichts Gutes ahnen ließ. Mit einem flauen Gefühl saß
Schostakowitsch den letzten Akt aus, setzte die totenmaskenhaft heitere Miene auf, nach der die Zeiten verlangten, und verbeugte sich sogar, als das verzückte Publikum ihn darum bat – denn die öffentliche Meinung, Leser, hat ihr ganz eigenes Trägheitsmoment, und die Erfolge der Oper in Schweden, Amerika, der Tschechoslowakei ließen sich nicht mit einem Mal ungeschehen machen! Er ging hinter die Bühne, um den Musikern zu danken – die vor ihm zurückschreckten,als hätte er Lepra. Sein Mund zuckte wild. Schweigend nahm er seine Aktenmappe. Niemand begleitete ihn hinaus. Er schritt durch den Portikus in die blaue Blässe einer weiteren Schneenacht, dann hielt er inne. Er blickte hinauf zu den sich aufbäumenden Pferden Apolls über dem Säulengang – eingefrorene Pferde. Im Bürgerkrieg hatten die Glücklicheren Pferdefleisch gegessen. O ja, deshalb hatten unsere Matrosen Beethoven gefressen. Er überantwortete sich den Straßen und kam an einem Polizisten vorbei, dessen grünliche Schultern der Schnee verbarg. Ein paar Stunden zuvor hätte er den Mann angelächelt. Jetzt wagte er nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Er bestieg den Zug Richtung Archangelsk, und seine Fingerspitzen trommelten den mitreißenden, wilden, trunken anzüglichen Marsch, der sich Bahn brach, als der zerlumpte Bauer, der den stinkenden Leichnam des Gatten gefunden hatte, zur Polizeiwache lief, um Katerina und Sergej anzuzeigen. Und Schostakowitschs Abteil klickerklackerte allegro, als er in das seltsam zarte Blasslila eines russischen Wintermorgens davonfuhr.
    Zwei Tage darauf demaskierte die Prawda den kleinbürgerlichen Obskurantismus der Oper. In stillem, artigem Trotz setzte er seine Rundreise fort. Alle schreckten nun vor seiner Schuld zurück.
    8
    Der Leningrader Komponistenverband lud ihn vor, zu einer Diskussion der Angriffe auf ihn, aber er weigerte sich zu erscheinen. Auch das nahm man als Zeichen eines unnachgiebigen Individualismus und

Weitere Kostenlose Bücher