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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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vergaß es ihm nicht.
    Noch in der gleichen Woche stellte die Prawda seine Kolchoskomödie »Der helle Bach« als »Ballett-Irrtum« bloß. Sein Koautor Piotrowski wurde verbannt und schließlich liquidiert. Schostakowitsch komponierte nie wieder eine Ballettmusik.
    Was all jene anging, die jemals »Lady Macbeth« gepriesen hatten, sie fanden sich in ganz ähnlicher Lage wieder wie Tamara Iwanowna und Ljubow Berlin, die beiden Fallschirmspringerinnen, die einander im jüngsten allsowjetischen Wettbewerb so unbedingt hatten ausstechen wollen, dass keine von ihnen rechtzeitig die Reißleine zog. Wie würden seine Lobredner sich in dieser irrwitzigen Kehrtwendung verhalten? Die Prawda hatte sie einer »anbiedernden Musikkritik« bezichtigt. Um sich zu retten, mussten sie so schnell und weit springen wie möglich und Schostakowitsch in den Sturmwolken des Formalismus zurücklassen. (Das war ihm klar; er kannte die Regeln. Er hatte Malko dasselbe angetan. Aus Archangelsk sandte er Glikmann ein Telegramm: Bitte schicke mir unverzüglich alle Zeitungsausschnitte, lieber Isaak Dawidowitsch! Jede einzelne Note der Denunziationssinfonie wollte er hören.) Sie mussten rasch wieder hinunter auf die Erde. Sie mussten ihm Freundschaft und Mitleid verweigern und ihn aus ihrem Gedächtnis löschen. Gnadenlose Abschottung im Privaten, gnadenloser Konformismus nach außen – das waren die beiden Strippen, die sie ziehen mussten, um sich selbst sicher hinab in die Versenkung zu steuern. Ab und zu wurde der eine oder andere abgeholt, und der Rest erbleichte; aber weil es gefährlich war, je wieder von jenen zu sprechen, die verschlungen worden waren, und erst recht, sich zu fragen, ob man beim nächsten Ticken des Metronoms selbst verhaftet werden könnte, versuchten sie eifrig, ihr Vertrauen in die Losungunter Beweis zu stellen, denn wer hätte sich nicht gewünscht, dass es so wäre? Manche trösteten sich damit, dass der Genosse Stalin nicht wusste, was in seinem Namen angerichtet wurde; denn dann waren sie nicht völlig verloren. Die besser Informierten hofften noch immer, der Genosse Stalin sei, was seine wachsende Sammlung von Opfern anging, wie ein russischer Bojar aus alter Zeit, der, angenehm abgehoben von der Ausübung seiner ungeheuren Macht, seine Verwalter fragen musste, sollte er unwahrscheinlicherweise je aus irgendeinem Grund zu erfahren wünschen, wie viele Dörfer, Leibeigene und Windhunde er besaß. In Wahrheit sass Stalin natürlich Nacht für Nacht mit Molotow oben im Kreml, hakte alles ab, befahl alles persönlich und zeichnete lange Namenslisten ab, denen sie gemeinsam die Anordnung hinzufügten: Alle erschießen.
    Schostakowitsch zog sich zurück. Immer wieder sagte er zu Nina: Ich verstehe das nicht.
    Am zehnten Februar drängte und mahnte P. Kerschenzew, Vorsitzender des Allunionskomitees für Kunstangelegenheiten, diesen Schostakowitsch öffentlich, sich reinzuwaschen, durch das Studium der melodischen Volksmusik aller Sowjetgebiete. Weil nur die ersten paar Takte dieser Kritik unter Genossen orchestriert gewesen waren, blieb dem Komponisten bei diesem Stand der Dinge noch ein zitternder Abglanz von Hoffnung, als spiegele sich die-Losung im Kanal, und vielleicht konnte er noch immer als kleiner Egoist durchkommen, der aus Nachlässigkeit ein paar Fehler begangen hatte. Sang er nur ein Oratorium der Zerknirschung, führte die erwartete Selbstkasteiung aus und leistete in der Zukunft alle erforderlichen Wiedergutmachungen, würde sein ergrauendes Leben vielleicht wieder Bonbonstreifen tragen wie die höchste Kuppel der Bluterlöser-Kirche (eines der malerischsten Bauwerke Leningrads, das unsere Partei nun in ein Museum des Atheismus verwandelt hat). Verschiedene Individuen, die inzwischen alle Anstandsregeln und Sicherheitsbedenken in den Wind geschlagen hatten, um ihm alles Gute zu wünschen, merkten an, die Energie, die er nun darauf verwenden müsse, sich zu entlasten, werde ihn von seinen dunklen Vorahnungen ablenken. Wenn er nur tue, wie man ihn geheißen habe, sagten sie, könnten die nächsten paar Maßnahmen heiterer ausfallen.
    Schostakowitsch verfiel erst in Schweigen, dann in unterwürfige Mehrdeutigkeiten. Er forderte ein Treffen mit dem Genossen Stalin. Leider war der Genosse Stalin dem nicht geneigt.
    9
    In allabendlichen Flüstergesprächen mit Nina versuchte er herauszufinden, was das Schwein beleidigt hatte; selbst wenn er trank, konnte er kaum noch schlafen. Was war das für ein Geräusch?

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