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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Bibbernd saß er auf dem Klavierhocker, das Hemd bis obenhin zugeknöpft, und starrte durch die dicken Brillengläser hinab, als läge eine unberührte Partitur erwartungsvoll auf seinem Schoß. Als Erstes hatte die Einsamkeit seinen Egoismus durchstoßen. Als Nächstes begann er, die Angst zu spüren.
    Ich versuche ja, verstehst du, flüsterte er, das, das philosophisch zu
sehen, aber trotzdem würde es mir helfen, wenn ich wüsste warum. Ich dachte, vielleicht hast du etwas Neues gehört …
    Nimm es einfach als Witz!, erwiderte seine Frau mit verletzendem Lachen. Was soll das helfen? Auf jeden Fall sind wir beide die Angeschmierten, das kannst du glauben.
    Ich … wie meinst du das?
    Bist du wirklich so naiv? Mich zu fragen, ob ich etwas Neues gehört habe! Die Leute reden ja nicht mehr mit mir. Ich traue mich nicht einmal, mir ein paar Löffel Zucker zu borgen …
    Er wollte witzig sein. Er sagte: Das ist nur der erste Satz, Ninotschka. Zum Finale werden sie mich erschießen müssen, also sage ich immer, Moment mal, wir, wir waren ja noch nicht mal bei der Reprise, wir sind immer noch bei der Entwicklung des Themas …
23
    Lach du nur. Ich möchte wissen, ob jemand noch lachen kann, wenn man ihm den Kopf wegpustet. Du bist wirklich völlig jenseits.
    Nun je, nun ja. Vielleicht sind wir beide … Aber wirklich, ich … Egal, meine Ohren müssen kotzen, wenn ich diese Reden höre.
    Nicht so laut, Mitja!
    Sag mir bitte eins. »Otello« ist noch immer meine absolute Lieblingsoper, und dir gefällt Verdi doch auch noch?
    Worauf willst du hinaus?
    Weil »Lady Macbeth« zufällig dir gewidmet ist, dachte ich, na ja … magst du sie?
    Langsam kam sie zu ihm, stellte sich neben ihn und legte einen Arm auf den aufgeklappten Klavierdeckel. Ihr Gürtel befand sich auf der Höhe seiner Augen. Ihr schwangerer Bauch berührte seine Wange, und er, er, wissen Sie … Sie sagte: Mitja, Liebling, du weißt doch, dass ich sehr geschmeichelt war.
    Das habe ich nicht gefragt. Ich wollte etwas von Bedeutung tun. Wenn es nur Kunst ist und ich es also nicht richtig getroffen habe, dann, dann … verstehst du, Lady Macbeths Verbrechen sind ein Protest gegen das Leben, in dem sie gefangen ist, die erstickende Macht der Kaufmannsklasse des vergangenen Jahrhunderts …
24
    Nein, das verstehe ich noch nicht. Was war genau die Frage?
    Kann Musik gegen das Böse kämpfen?
25 Wenn ich es wirklich versuche, ganz aufrichtig, und vielleicht leide und den Leiden der anderen nachspüre oder …
    Wie soll das gehen?
    Die Baltische Flotte …
    Jetzt hör schon auf, sagte Nina. Glaubst du nicht, sie hätten lieber Brot bekommen?
    Also sagst du, was ich tun wollte, war eigentlich unmöglich .
    Wen kümmert es, ob es unmöglich ist oder nicht? Du quälst dich so gerne mit diesen abstrakten Fragen. Im Grunde bist du so sehr damit beschäftigt, dich zu foltern, dass du nie …
    Dann müssen sie es – ha ha! – nicht für mich tun …
    Bitte sieh dich vor, Mitja, o Gott! Was redest du da?
    Aus irgendeinem Grund, weißt du, tut Katerina mir leid. Als wäre sie wirklich … Und wenn es mir gelungen wäre, auch bei anderen Mitleid mit ihr zu wecken …
    Schluss mit der Vergangenheitsform!
    Dann würde vielleicht jemand sogar, weißt du, versuchen, ein paar der Frauen zu retten, die so in der Falle sitzen wie sie …
    So eine Dummheit!
    Und Sergej, verstehst du, meine Musik zieht ihn, sozusagen, nackt aus.
26 (Ich habe keine Zigaretten mehr.) Man sieht schon, wie sich durch die Fassade des glatten Herrenausstatters der zukünftige Kulak hervorschwitzt, der, wenn man ihn nicht zur Zwangsarbeit verurteilt hätte, ein Großkaufmann und Ausbeuter geworden wäre …
    Wo hast du das alles her ? Du sprichst, als würdest du Volksreden halten.
    Nein nein! Und unterbrich mich nicht mehr! Ich will wirklich …
    Immer wieder sagen sie dir, du sollst dich entschuldigen und deine Aufnahme in die Partei beantragen. Vielleicht solltest du das einfach tun. Halt dir die Nase zu und mach es, Mitja! Ich rede ja gar nicht von mir, aber du wirst bald Vater, weißt du noch?
    Ich werde, ich, na ja, ich werde mich zur Wehr setzen. Wenn wir alle tot sind, werden sie schon sehen. Meine Musik wird …
    Mitja, hör zu. Ich lasse dir deine Geliebten und deine asozialen Spielchen, die vielleicht sogar Verbrechen sind. Habe ich nicht genug getan? Soll ich dich auch noch Selbstmord begehen lassen?
    Jedenfalls, sagte er und putzte sich furchtsam die Brille, können sie

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