Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
Musik hätte, aber die Wiener Art, sie zu zelebrieren, ist einfach nicht meine Sache.
Nach einem ruhigen, faulen Sonntag machen wir uns also auf ins Konzerthaus. Ich bin richtig nervös, fiebere mit Céline mit. Ob die meisten der Besucher irgendetwas mit den Interpretinnen zu tun haben? Schwer zu sagen, aber ich bin mir sicher, dass so manche Tante angereist ist, um Nichte oder Neffen auftreten zu sehen. Der Saal ist jedenfalls bis auf den letzten Platz gefüllt, das Programm angenehm vielfältig. Ein hübscher junger Geiger spielt Paganini, überhaupt scheinen mir die meisten der jungen Musiker und Musikerinnen überdurchschnittlich attraktiv. Wird da womöglich nicht nur nach Talent entschieden? Aber es geht ja nicht um Fernsehkarrieren. Wird wohl bloß Zufall sein, dass alle so gut aussehen. Jetzt tritt Céline auf. Sie trägt ein hellblaues, ganz schlichtes Schlauchkleid, das ihr bis zu den Waden reicht. Es betont ihre schmale Gestalt, die Augen wirken riesengroß. Sie wird nur von einem Pianisten, einem jungen Mann im dunklen Anzug, begleitet. Sie räuspert sich und sagt dann mit klarer, weitreichender Stimme: „Ich werde Ihnen nun drei Weill-Songs vortragen. Den letzten widme ich ganz besonders meiner Mutter.“
Ich sehe, wie viele Leute im Saal den Kopf drehen, herauszufinden versuchen, wo die Mutter denn sitzen könnte. Sie wäre sehr gern hier gesessen, da bin ich mir sicher. Und als Céline mit ganz gerader, sehnsuchtsvoller Stimme, ohne jeden Schnörkel, den September Song singt, werden meine Augen feucht. „Oh, it’s a long, long while from May till December …“ Ich blinzle, ich hasse es, zu weinen, verstohlen nehme ich ein Taschentuch, tue so, als wäre mir etwas ins Aug geflogen. Und dann brandet auch schon Beifall auf. Céline scheint der Liebling des Abends zu werden.
Wir drängen mit den anderen ins Foyer, Oskar prophezeit Céline eine große Karriere. Wenn nicht etwas dazwischenkommt, denke ich. Ein Unglück. Etwas, das sie nicht verkraften kann. Aber sie wirkt stärker als Evelyn. – Wie kann ich das behaupten? Ich habe ihre Mutter damals nicht gekannt. Mira, du bist ihr überhaupt nicht begegnet. In der Tür ins Freie sehe ich Hans Tobler, er trägt einen dunklen Anzug und Masche und strebt allein zum nächsten Parkplatz.
[ 6. ]
Nach der allzu morgendlichen Redaktionssitzung weiß ich, wie ich zum Thema für meine aktuelle Story gekommen bin: Unser Chronikchef hat zufälligerweise einen guten Freund, der zufälligerweise ein großes Fahrradgeschäft in der Wiener Innenstadt betreibt. „Wenn der Laden gar so gut geht, warum braucht er dann Ihre Hilfe?“, habe ich ziemlich direkt gefragt. Der Chronikchef hat nur verzeihend gelächelt und gemeint, es sei eher umgekehrt: Er sei seinem Freund dankbar, dass er mit mir reden wolle. Da ich ja offenbar bis jetzt nicht imstande gewesen sei, geeignete Unternehmen für den zweiten Teil der Serie zu finden. Droch ist heute nicht in der Redaktion, er ist bei einer Regierungsklausur, zu der nur eine Handvoll Journalisten eingeladen sind. Gern ist er nicht gefahren, das weiß ich, er hasst diesen Anbiederungsrummel rund um politische Elitetreffen. Das Motto der Klausur lautet tatsächlich: „Die Krise meistern, die Wirtschaft stärken und die Menschen entlasten.“
Ich treffe den Fahrradhändler in seinem Geschäft „Gut Rad“. Er ist früher Rennen gefahren, das habe ich im Internet recherchiert. Drahtig, schlank, muskulös. Ob er den neuen Antidopingbestimmungen zum Opfer gefallen ist? Er muss über vierzig sein, wahrscheinlich hat er altersbedingt abgedankt. Ich lasse mich von ihm anschwatzen, stelle wenig ambitionierte Fragen, ärgere ihn mit der Bitte um Bilanzzahlen – immerhin gehe es ja um boomende Unternehmen und er solle als Vorzeigemann unter den Krisenbewältigern präsentiert werden. Der Radler redet etwas von Betriebsgeheimnis, aber er könne mir jedenfalls sagen, dass seine Umsätze um mehr als dreißig Prozent gestiegen seien. Ich verspreche ihm, morgen einen Fotografen vorbeizuschicken. Eine Praktikantin habe ich gebeten, nach Promis zu suchen, die in Zeiten wie diesen aufs Rad umgestiegen sind. Ich werde den Aufwand für die Story so gering wie möglich halten. Und lieber an der Geschichte über Armut in Österreich arbeiten. Es dauert nicht mehr lange und unser Chefredakteur ist zurück. Ihm werde ich klarmachen, dass sie fürs „Magazin“ sehr spannend wäre.
Manager, die seit der Wirtschaftskrise am Hungertuch nagen,
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