Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
habe ich bei meinen Internetrecherchen allerdings noch keine gefunden. Sieht ganz so aus, als hätte es wieder die getroffen, die ohnehin nichts oder wenig haben. Ich sollte mit jemandem von der Caritas reden. Statements ihrer Direktoren gibt es genug, ich würde lieber bei denen recherchieren, die vor Ort die Arbeit machen. Wo ist eigentlich die Caritasstelle, zu der Lissenberg gehört?
Das grüne Schild: „CARITAS – beraten, betreuen und pflegen“ weist mir den Weg. Ich gehe an einem relativ neuen Wohnblock entlang, komme zu einer Glastür, die zur Hälfte mit Plakaten verklebt ist. „Caritas – betreuen und pflegen zu Hause“, „Mobiles Hospiz“, „Caritas – berufliche Integration“, „Job Coaching“, „Arbeitsassistenz“, „Clearing für Jugendliche“. War mir gar nicht bewusst, worum sich diese Einrichtung alles kümmert. Wohl kümmern muss. Ich sehe mich im Foyer um. Ein Mann um die fünfzig wartet vor einer der schmucklosen Türen mit Namensschild. Was er wohl für ein Problem hat? Er ist unauffällig gekleidet, sauberer brauner Pullover, schwarze Stoffhose, er wirkt durchschnittlich, könnte ein kleiner Angestellter sein. – Was glaubst du, Mira? Dass Leute, die Hilfe brauchen, zerlumpt und schmutzig sein müssen? Eine Tür geht auf. Ich zucke wie ertappt zusammen. Die Caritasmitarbeiterin kommt auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen. Heute sei ausnahmsweise wenig los, ich könne gleich reinkommen. Frau Kruder führt mich zu einem Schreibtisch mit Computer, das Zimmer hell, freundlich, Grünpflanzen am Fenster. Das Besprechungszimmer sei leider belegt, sagt sie und deutet auf einen Stuhl in der Nähe ihres Schreibtischsessels. Wir setzen uns. Wenn die Caritas in der „Magazin“-Geschichte ausdrücklich vorkomme: Wäre es dann möglich, dass die Pressestelle den Artikel vorab sehen kann? Ich nicke. Kein Problem. Frau Kruder ist Mitte dreißig und hat bis vor einiger Zeit als Pastoralassistentin gearbeitet, erzählt sie mir, während sie Kaffee einschenkt. „Dann ist mir klar geworden, dass meine Stärken weniger in der Seelsorge liegen als in der konkreten Hilfe im Alltag.“ Über versteckte Armut könne sie eine ganze Menge berichten, besonders arg sei sie bei alleinstehenden Frauen mit Kindern. Die kämen aus dem Teufelskreis „kein Geld – keine Zeit“ nur sehr schwer raus. „Es klingt arg, aber die bedürftigen Alten haben sich damit abgefunden, dass sie fast Geld haben. Sie haben es oft ihr ganzes Leben lang nicht anders gekannt. Und arm zu sein war früher lange nicht so eine Schande wie heute.“ Die Jungen hingegen, die wollten mithalten können, also verschulden sie sich, bis es schließlich nicht mehr gehe. Raten an Versandhäuser, Handyrechnungen, Möbel, für die man erst später zahlen muss. Ihnen zu helfen sei schwierig, oft genug wollten sie auch keine Hilfe. Und wenn, sei das so eine Sache: Ordentliche Jobs für Alleinerzieherinnen zu finden, die gepfändet werden, sei momentan so gut wie unmöglich. Solche Frauen gälten in jeder Hinsicht als unzuverlässig. Auch wenn das eine Sauerei sei. Als ob nicht gewisse Männer … Ihre Augen blitzen. Langsam komme ich auf Evelyn Maier zu sprechen: Ob sie die gekannt habe.
„Sie ist vor Kurzem gestorben“, sagt Frau Kruder und nickt. „So etwas spricht sich bei uns natürlich herum. Sie war auch so ein Fall. Einmal hatte ich mit ihr zu tun. Sie hat ihre Stromrechnungen nicht bezahlt, auch keine Mahnungen, da hat ihr die Energiegesellschaft Strom und Gas abgedreht. Ich glaube, ihre Tochter war es, die mich angerufen hat. Üblicherweise kommen die Leute zu uns, aber in dem Fall bin ich zu Evelyn Maier gefahren und hab mit ihr geredet. Die Rechnung war ohnehin nicht hoch. Wir sind eingesprungen. Wir haben ein gewisses Budget, um Notsituationen zu überbrücken. Und ich habe ihr versucht klarzumachen, dass sie von der Sozialhilfe immer sofort weglegen muss, so viel sie an Fixkosten zu zahlen hat. Ist allerdings nicht so einfach, von der Sozialhilfe etwas wegzulegen, das weiß ich schon.“
„Hätte es keine Möglichkeit gegeben, ihr auf Dauer zu helfen? Sie war erst zweiundvierzig.“
Frau Kruder nimmt einen Schluck Kaffee. „Vielleicht … wenn man Zeit gehabt hätte … Ich glaube nicht, dass man einen Menschen jemals aufgeben darf. Aber unsere Möglichkeiten sind sehr begrenzt.“ Sie sieht mich an. „Ich weiß, so etwas sagt man nicht mehr, aber: Gott hat auch keine und keinen jemals aufgegeben. Daran glaube
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