Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
ich.“
Ich versuche ein möglichst neutrales Gesicht zu machen. Evelyn hat jedenfalls nicht gewirkt, als hätte sie viel Beistand von oben bekommen. Sie hat sich an ihren Liebling, das Mobiltelefon, gehalten. „Wissen Sie, dass sie in einer Band gesungen hat, als sie jung war?“, frage ich dann.
„Nein“, lächelt Frau Kruder. „Aber ich weiß, dass sie ihre Schneiderlehre abgebrochen hat und dass sie sich seit Jahren nur noch mit Aushilfsjobs über Wasser halten konnte. Wir versuchen Leute ins Arbeitsleben zu integrieren, wäre an sich wohl Aufgabe des Staates, aber es gibt Menschen, die brauchen mehr Hilfe als irgendwelche Arbeitsmarktservicekurse. Ich habe ihr so ein Programm angeboten. Da hat sie mir einen Teil ihrer Befunde gezeigt. Zucker und schwere Gelenksabnützung und Bluthochdruck und ich weiß nicht, was noch alles. Schlimm. Zu wenig Versicherungszeiten, zu jung für eine Rente. Zu alt, zu krank für den Arbeitsmarkt. So eine, die überall durchfällt.“
„Sie muss einen Arzt gehabt haben. Wer war es?“
Frau Kruder schüttelt den Kopf. „Nicht bei uns. Solange sie in Wien gelebt hat, ist sie ab und zu in ein Krankenkassenambulatorium gegangen. In Niederösterreich scheint sie bei keinem Arzt mehr gewesen zu sein. Das passiert leider häufig. Sozialhilfeempfänger müssen sich einen besonderen Krankenschein holen, alle können erkennen, mit wem sie es zu tun haben. Das ist ganz schön ausgrenzend.“
„Aber sie hatte Zucker. Ist es nicht sehr gefährlich, das nicht behandeln zu lassen?“
Frau Kruder seufzt. „Es scheint sie weniger beunruhigt zu haben als das, was in ihrem Fall nötig gewesen wäre, um zu einem Arzt zu kommen.“
Eigentlich seltsam. Die Caritasfrau hat Evelyn nur einmal besucht. Warum weiß sie dann so viel über ihr Leben? Ich frage sie das. Sie lächelt traurig. „Ich gebe zu, ich habe mir die Unterlagen auch erst genau angesehen, als ich erfahren habe, dass sie ums Leben gekommen war. Wenn eine Zweiundvierzigjährige einsam in einem Substandardhaus stirbt, dann denkt man nach. Hätten wir nicht mehr tun können? Mehr tun müssen? Wer hätte ihr helfen können?“
„Das betrifft uns wohl alle“, murmle ich und meine es auch so. Als ich bereits aufgestanden bin, fällt mir noch etwas ein: „Haben Sie einen Geländewagen?“
Frau Kruder sieht mich verblüfft an. „Nein, einen kleinen Fiat. Warum?“
Ich lächle. „Die Nachbarin scheint eine eher neugierige Person zu sein, sie hat von einer Frau erzählt, die Evelyn Maier besucht hat, sie soll einen Geländewagen gefahren haben. Und sie hat angenommen, dass diese Frau von der Caritas gewesen ist.“ Ich erzähle ihr nicht, dass die Nachbarin meint, bei den Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen handle es sich um wohlhabende Frauen, die ja sonst nichts zu tun hätten.
„Bei uns gibt es keine, die einen Geländewagen hat.“
„Die Nachbarin scheint ohnehin in erster Linie eine blühende Fantasie zu haben“, schwäche ich ab.
Frau Kruder überlegt. „Die Nachbarin … die bekommt von uns doch ‚Essen auf Rädern‘ … Mir fällt jetzt ihr Name nicht ein … Ja, die redet gern, dürfte ziemlich einsam sein, wenn auch mit einem beachtlichen Bankkonto. Und sparsam. Unsere Mitarbeiterin, die das Essen ausliefert, hat vor Kurzem erzählt, dass sie sich nicht einmal eine Schiebetruhe kauft, obwohl ihre seit ewig nicht mehr richtig funktioniert. Man fragt sich, wofür sie spart. Verwandte hat man schon lange keine mehr gesehen. Na ja, wenn sie stirbt, werden schon welche da sein.“ Sie sieht mich beinahe erschrocken an. „So böse hab ich das nicht gemeint … Vielleicht gibt es jemanden vom Psychosozialen Dienst, der einen Geländewagen fährt.“
Ich sehe sie fragend an.
„Der Psychosoziale Dienst ist eine Einrichtung des Landes, er kümmert sich um Menschen, die nicht allein mit ihrem Leben zurechtkommen. Die Mitarbeiterinnen reden mit ihnen, machen ihnen Vorschläge. Ich hab damals einen Kontakt hergestellt. Moment, das kann ich gleich klären.“ Frau Kruder greift zum Telefon, ein kurzes Gespräch, dem ich wenig entnehmen kann. Sie legt auf, schüttelt den Kopf. „Es war keiner bei ihr. Sie haben versucht einen Termin zu vereinbaren, aber Frau Maier war nicht interessiert. Die Leute vom Psychosozialen Dienst haben mehr als genug zu tun, das muss man verstehen. Tut mir leid.“
Ich bedanke mich. Und weil mir die üblichen Floskeln einfach zu wenig zu sein scheinen, füge ich noch hinzu: „Danke
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