Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
meines neuen Körpers mitzuerleben.
Bryan dreht sich zu mir um. »Was ist los? Brauchst du eine Extraeinladung?«
Ich zwinge mich zu einem schwachen Lächeln. »Gönn einem Mädchen mit einer Gehirnerschütterung doch eine Minute, um den Rosenduft zu riechen«, erwidere ich locker, als ich über die Schwelle auf den alten Parkettboden trete, der von dunklem Walnussholz eingerahmt wird.
Vor mir erstreckt sich das Wohnzimmer, in dem gemütliche Sofas auf verschiedenen, nicht zueinander passenden Perserteppichen stehen. Dahinter erspähe ich eine unordentliche und deshalb umso einladendere Küche.
Kaileys Mutter stellt ihre Handtasche auf der Anrichte ab. »Du solltest dich hinlegen, Schatz. Ärztliche Anweisung.«
Ich halte inne. Rechts und links von mir gehen zwei Korridore ab, die beide vermutlich zu den Schlafzimmern führen. Wo ist wohl Kaileys Zimmer? Ich starte einen Versuch und gehe nach rechts, als Bryan sich auch schon räuspert.
»Du glaubst wohl, nur weil du ein medizinisches Wunder bist, bekommst du das Elternschlafzimmer?« Sein Ton ist scherzhaft, aber sein Blick wirkt besorgt. Nicht um mich natürlich, sondern um seine Schwester.
Am liebsten würde ich ihm die Wahrheit sagen, aber mir ist vollkommen klar, dass mir die Morgans nicht glauben würden. Im besten Fall würden sie denken, dass meine Gehirnerschütterung ernster ist, als der Arzt ihnen gesagt hat. Im schlimmsten Fall würden sie mich in eine psychiatrische Klinik einweisen.
»Wollte nur sehen, ob du auch aufpasst«, antworte ich und biege rasch in den anderen Gang ein. Meine Stimme klingt hohl unter der falschen Fröhlichkeit.
Durch die erste offene Tür sehe ich ein ungemachtes Bett, auf dem Jeans und Kapuzenpullover verstreut liegen. Vor dem Schrank türmen sich verschiedenfarbige Chucks.
Ich gehe weiter zu dem nächsten Zimmer. Dort hängt der Duft von Jasminparfüm schwer in der Luft, und noch bevor ich die Tür öffne, weiß ich, dass ich hier richtig bin. Ich schließe die Zimmertür hinter mir und stoße erleichtert die Luft aus. Du bist fast da. Warte einfach, bis sie eingeschlafen sind, dann kannst du zu den Docks fahren, das Buch holen und dir einen Plan B überlegen … wie auch immer der aussehen mag.
Die Wände sind in einem lebhaften, dunklen Türkis gestrichen, auf dem Bett liegt eine Tagesdecke aus limettengrüner Seide. Am Kopfende sind lilafarbene Zierkissen mit Fransen und schwarzen Perlen arrangiert. Man fühlt sich, als wäre man von riesigen Pfauenfedern umgeben.
Ein Geigenkasten, der am Schreibtisch lehnt, zieht mich magisch an. Die Geige ist eines meiner Lieblingsinstrumente. War Kailey eine Musikerin? Als ich genauer hinsehe, entdecke ich eine dicke Staubschicht auf dem Kasten. In der Zimmerecke steht eine Staffelei mit einem halb beendeten Bild eines Mädchens am Strand, das aufs Meer hinausblickt.
Die Szenerie ist ganz in Grau gehalten: wolkenbedeckter Himmel, eine Nebelbank über schaumgekrönten Wellen. Das Mädchen sieht aus wie Kailey, und ihre funkelnden Augen sind der farbigste Punkt auf der Leinwand. Trotz der Farblosigkeit der Szenerie wirkt sie glücklich, als ob sie etwas außerhalb der Leinwand sehen könnte, das ihr Hoffnung gibt. Dann erkenne ich, dass sie unter der Oberfläche der bewegten See die Umrisse einiger Meerjungfrauen gezeichnet hat. Sie hatte keine Chance mehr, sie auszufüllen, doch sie sind unwiderlegbar da.
Die Meerjungfrauen erinnern mich an unsere Reise von Barbados nach New Amsterdam. Ich war wütend auf Cyrus, weil er unseren Diener in einem Wutanfall getötet hatte, und verbrachte so viel Zeit wie nur möglich allein auf den oberen Decks, während mir der Wind das Haar ums Gesicht peitschte. Die glatte Oberfläche des Ozeans frustrierte mich. Ich wollte darunterblicken. Ich wollte glauben, dass es unter uns noch eine andere Welt gibt, in der die Meerjungfrauen sich das Haar kämmen, auf einem versunkenen Cembalo spielen und der goldene Sand um sie herumschwebt.
Als ich mich von dem Gemälde abwende, das mich seltsam traurig macht, entdecke ich einen Frisiertisch mit Spiegel an einer Wand. Mehrere Postkarten und Tintenskizzen stecken zwischen Rahmen und Glas. Ich nehme einen Stapel Fotos von Kailey mit ihren Freundinnen in die Hand: die Mädchen auf einem Campingausflug, bei einer Schulfeier, auf Liegen an einem glitzernden Pool. Ein Mädchen ist öfter zu sehen; die magentafarbenen Strähnen in ihrem dunklen Haar stechen deutlich heraus. Kaileys Augen blicken mir auf
Weitere Kostenlose Bücher