Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
letzte Nacht warst. Ich habe deiner Mutter gesagt, dass wir nicht nachhaken. Wenn du einen Freund hast oder so … Also … du kannst es uns später erzählen.« Er umarmt mich, seine Stimme bricht. »Wir sind einfach nur froh, dass es dir gutgeht.«
Mein Herz verkrampft sich schmerzhaft. Von allen Dingen, die ich all die Jahre über getan habe, ist das hier das Schlimmste. Kaileys Tod hätte diese Familie zerstört, aber wenigstens hätten sie gewusst, dass sie tot ist. Wenn ich in dieser Nacht verschwinde – werden sie dann glauben, dass ihre Tochter weggelaufen ist? Dass sich Kailey umgebracht hat? Jede dieser beiden Möglichkeiten ist so viel furchtbarer als ein tragischer Autounfall.
Ich frage mich zum hundertsten Mal, seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin, was ich mir nur dabei gedacht habe. Ich wusste, dass die Herz-Lungen-Reanimation ihr nicht helfen würde – warum habe ich es trotzdem versucht, trotz des hohen Risikos? Habe ich eingegriffen, weil ich als Wiedergeborene gelernt habe, dass sich der Lauf der Natur ändern lässt? Oder hat mich zum Teil mein Unterbewusstsein gelenkt, das doch leben wollte?
Ich wende mich von Mr. Morgan ab, um meine Tränen vor ihm zu verbergen. »Es tut mir sehr leid, dass ihr euch solche Sorgen um mich gemacht habt. Ich fühle mich schrecklich.«
»He, ich bin Vater. Es ist mein Job, mir Sorgen zu machen. Wir sehen uns morgen früh, Kleines.« Mr. Morgan lächelt mir kurz zu, bevor er die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich ins Schloss zieht und mich mit meiner Schuld und meiner Traurigkeit allein lässt.
Kapitel 11
I ch warte einige Stunden, bis sich Stille über das Haus gesenkt hat und die Dunkelheit draußen undurchdringlich ist. Dann hänge ich mir Kaileys Rucksack über die Schulter, öffne ein Fenster und springe geschmeidig auf den Ziegelpfad darunter. Ich kann nicht leugnen, dass es sich nach Monaten in einem sterbenden Körper herrlich anfühlt, in einem neuen, starken zu leben, die Kraft in den unverbrauchten Muskeln zu spüren. Doch schon im nächsten Moment setzt eine tiefe Reue ein, die mehr schmerzt, als mein alter Körper es je getan hat.
Leise schleiche ich mich am Haus entlang auf die Straße zu. Am Ende der Einfahrt drehe ich mich um und blicke zurück. Es tut mir wirklich fürchterlich leid.
Ein tiefes Knurren schreckt mich aus meinem stillen Abschied auf. Ich wirbele herum und starre in die Dunkelheit, meine Augen funkeln, ich bin bereit wegzulaufen. Oder zu kämpfen.
»Du wirkst ganz schön lebendig für jemanden, der gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden ist.«
Ich erstarre. Die Stimme gehört einem großen, dunkelhaarigen Jungen, der im Schatten eines Mammutbaumes steht, die Leine eines riesigen Hundes in der Hand. Das Tier knurrt erneut und zerrt an der Leine.
»Musstest du wirklich aus dem Fenster klettern«, fährt der Junge fort, »oder war das nur wegen des dramatischen Effekts?«
»Du hast mich beobachtet?« Vor Angst zittert meine Stimme leicht. »Wer bist du?«
»Sehr lustig, Kailey.« Dann blickt er mich besorgt an. »He, warte mal, erinnerst du dich wirklich nicht an mich?«
Ich atme langsam aus. Das muss einer von Kaileys Freunden sein. Einen Moment lang habe ich geglaubt, dass Jared in einem neuen Körper vor mir steht. Oder – noch schlimmer – Cyrus.
»Nur ein kleiner Gehirnerschütterungswitz«, antworte ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Wer hat dir von dem Unfall erzählt?«, frage ich beiläufig, auch wenn sich Panik in meinem Magen ballt. Habe ich doch etwas in den Nachrichten überlesen?
»Bryan. Ich habe ihn heute zufällig getroffen.«
Ich nicke erleichtert und betrachte den Jungen erneut. Sein Haar ist so lang, dass es ihm ins Gesicht fällt. Er streicht es sich mit seinen starken, wohlgeformten Händen aus der Stirn. Seine Augen sind von einem überraschenden Türkisblau und starren mich unter dichten Brauen hervor an. Eine Kamera hängt um seinen Hals. Irgendetwas an ihm kommt mir bekannt vor, aber ich kann es nicht benennen.
»So schlimm war es gar nicht. Es ist mir tatsächlich sogar ganz schön peinlich. Ich wäre dir daher sehr dankbar, wenn du es nicht überall herumerzählen würdest.« Sollte sich mein Unfall noch nicht herumgesprochen haben, muss ich dafür sorgen, dass es auch so bleibt. Cyrus hat schon mit weit weniger Informationen Geheimnisse aufgedeckt.
Der Hund knurrt erneut und fletscht die Zähne. Tiere sind nicht so leicht hinters Licht zu führen wie Menschen.
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