Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
toupiert.
Mir stockt der Atem. Sie sieht Kailey unglaublich ähnlich. »Der Inbegriff der Coolness«, bestätige ich.
Bryan stupst mich an. »Jetzt hör sich einer die hier an! Du versuchst doch nur, den Hausarrest loszuwerden.«
Mrs. Morgan seufzt. »Bryan, du bist wirklich gemein. Ich wette, wir finden hier drin auch von dir sehr lustige Fotos. Ich erinnere mich da an eine ganz bestimmte Phase, als du jeden Tag dasselbe Power-Ranger-Kostüm getragen hast.«
»Mein Stichwort abzuhauen«, erwidert Bryan, nimmt seinen Teller und trägt ihn zum Spülbecken.
Ich rutsche näher zu Kaileys Mutter, während sie durch das Album blättert. Aufnahmen von Kailey als schreiender, rotgesichtiger Säugling in Mrs. Morgans erschöpften Armen. Kailey mit zwei oder drei Jahren, mit Bryan, mit bloßem Oberkörper, braungebrannt am Strand, ihre weißblonden Haare vom Salzwasser verkrustet. Kailey, wie sie Erdbeeren isst, ihr Gesicht über und über vom roten Fruchtsaft verschmiert. Kailey mit sieben und der obligatorischen Zahnlücke, wie sie mit ihrem Vater vor einem nigelnagelneuen Gartenbaumhaus steht.
Auch neuere Fotos gibt es: eine mürrische zwölfjährige Kailey, die beim Campingurlaub schmollt. Kailey ganz in Schwarz mit lilafarbenen Haaren.
»Hm … deine Gothic-Phase«, sagt Mrs. Morgan. »Wir haben dich immer machen lassen, aber ich muss sagen, dass dir die Farbe wirklich nicht gestanden hat.«
Ich muss lachen. Sie hat absolut recht.
Von mir gibt es keine Fotos – Cyrus hat es immer für zu gefährlich gehalten, irgendeinen Hinweis auf unsere wahre Herkunft mit uns herumzutragen –, und ich erinnere mich auch nicht mehr daran, wie ich als Mensch ausgesehen habe. Nur an meine Eltern kann ich mich noch erinnern. An meine Mom mit ihren honigbraunen Augen und den dunklen Locken, an das kantige Kinn meines Vaters und sein fröhliches Lächeln.
Mrs. Morgan schlägt eine Seite mit lauter Familienfotos auf. Keines davon ist technisch perfekt – Mr. Morgan hat die Augen zu, oder Kailey streckt Bryan gerade die Zunge heraus, Bryan macht hinter Kaileys Kopf Häschenohren, während ihr Mrs. Morgan das Haar glatt streicht –, doch sie haben perfekt eingefangen, wie sehr sich diese Familie liebt.
Es gibt ein Phänomen, von dem die Menschen sprechen, wenn sie in den letzten Minuten vor dem Tod ihr Leben im Zeitraffer vor sich ablaufen sehen. Ich habe keine Ahnung, ob das zutrifft oder nicht. Aber ich habe das seltsame Gefühl, dass ich, wenn es wahr ist, jetzt sehe, was Kailey in ihren letzten glühenden, blutigen, schmerzhaften Momenten gesehen hat, als sie im Wrack ihres Autos lag.
»Du weißt, dass ich dich vermissen werde«, sagt Mrs. Morgan kopfschüttelnd.
Mein Herz hämmert. »Was … was meinst du damit?«, stottere ich.
»Das College, Kailey. Es dauert nicht mehr lang.«
Ich zwinge mich zu einem hohlen Lachen. »Aber bis dahin sind es doch noch zwei Jahre.«
Sie streicht mir die Ponyfransen aus dem Gesicht. »Du bist jung. Wenn du erst mal in meinem Alter bist, wirst du sehen, dass zwei Jahre gar nichts sind. Im Handumdrehen vorbei.«
Sie küsst mich auf die Stirn, und ich umarme sie, fühle mich wieder einmal schuldig. Sie hat recht. Zwei Jahre sind ein Tropfen Wasser im Ozean. Und Kailey wird noch viel früher aus ihrem Leben verschwunden sein. Überrascht stelle ich fest, dass mich der Gedanke an den Abschied genauso traurig um ihretwillen wie um meinetwillen macht. Auch wenn ich erst seit ein paar Tagen bei den Morgans lebe, sind sie für mich eine Familie, mehr als es Cyrus und die anderen je waren.
Kapitel 19
A m Donnerstagabend betrachte ich gerade die Sterne an Kaileys Zimmerdecke, als ich Schritte im Flur höre. Die Tür öffnet sich knarzend, und Bryan streckt den Kopf ins Zimmer.
»Hol dein Zeug«, zischt er. »Ich befreie dich!«
»Im Ernst?«, frage ich überrascht.
»Ja, los, mach dich fertig.«
Wir fahren in die Hügel von Oakland, und verblüffend schnell löst Wald die Häuserzeilen ab, und wir befinden uns in der Wildnis. Das Haus des Partyveranstalters ist eine moderne Version einer Waldhütte, rechteckig und mit Glaswänden, passt jedoch irgendwie perfekt in den alten Mammutbaumhain. Drinnen trinken Jugendliche Bier aus roten Plastikbechern und tanzen zu den Electro-Beats aus Dawsons Stereoanlage.
Seit dem Abend im Emerald City war ich auf keiner Party mehr – die Jeans und die karierte Bluse mit den Perlmuttknöpfen, die ich heute trage, sind ein himmelweiter
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