Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
mir, dass die Schule noch sehr weit entfernt ist.
Am Mittwoch ist es eher ruhig im Antiquitätenladen, weshalb ich Billie Holiday auf der Stereoanlage höre und den Regen beobachte, der die Fensterscheiben hinunterläuft. Genüsslich blättere ich einen Stapel Daguerreotypien in Messingschachteln durch. Sie sind schwarzweiß, doch einige weisen am Rand bunte Ecken auf, ein Überbleibsel von der Plattenherstellung.
All die Menschen auf den Abbildungen sind schon sehr lange tot. Ein Mädchen sieht ein wenig aus wie Charlotte, auch wenn ihr Haar viel zu ordentlich frisiert ist; streng in der Mitte gescheitelt, umrahmt es ihr Gesicht in perfekten Korkenzieherlocken. Ich weiß, dass sie es nicht ist, trotzdem nehme ich das Bild mit zur Kasse, um es während der Arbeit betrachten zu können.
Der Gedanke an Charlotte schmerzt mich. Ich vermisse sie schrecklich und mache mir Sorgen um sie. Konnte sie sich unauffällig verhalten und Cyrus’ Zorn entgehen? Ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass sie hart im Nehmen ist und schon viel überstanden hat.
Ich stelle das Foto ab und gehe hinüber zu einem Klavier, auf dem ich beiläufig ein paar Tasten anschlage. Bisher habe ich mir das immer stärker werdende Gefühl nicht vollständig eingestanden, aber jetzt kann ich es immerhin identifizieren, wie ein Klopfen an der Tür, das wahrgenommen werden will, um das man sich kümmern soll.
»Ich wünschte, ich könnte hierbleiben«, flüstere ich leise. Niemand ist da, der mich hören könnte, weshalb ich es gleich noch einmal sage.
Beim Klang der Türglocke reiße ich den Kopf herum. Es ist Noah, tropfnass, seine Kamera sicher in einer Plastiktüte verpackt.
Ich muss lachen. »Du hast keinen Schirm, aber deine Kamera trägt einen kleinen Poncho?«
»Man muss Prioritäten setzen«, erwidert er, während er seine vollkommen durchnässte Kapuzenjacke öffnet. »Außerdem haben sich meine Eltern wieder angeschrien. Da hatte ich dann keine Lust mehr, noch mal wegen eines Schirms zurückzugehen.«
Ich nehme ihm die Kapuzenjacke ab und hänge sie über einen alten Eichenkleiderständer. »Du solltest hierbleiben und mir Gesellschaft leisten«, sage ich und merke, wie nahe er mir ist. Wieder einmal bin ich überwältigt, wie groß er ist, wenn ich direkt neben ihm stehe. Als ich schon wieder rot zu werden drohe, wende ich den Blick ab.
Noah sieht sich in dem Laden um, der extrem chaotisch ist, aber auch gemütlich, warm erleuchtet vom orangefarbenen Schein diverser Tiffany-Glaslampen. Es gibt lange Reihen ledergebundener Bücher, Kleiderstapel, abgewetzte Samtsofas, ungestimmte Gitarren und haufenweise alte Fotografien. Als ich ihm die Daguerreotypien zeige, leuchtet sein Gesicht auf.
»Heute kann jeder Idiot mit seinem Handy ein Foto machen, aber damals war es noch, als ob man sein Porträt malen ließe.«
Ich mag die Leidenschaft in seiner Stimme.
Im hinteren Teil des Ladens bleibt er vor einer Vitrine mit alten Hüten stehen – kunstvolle Filzdamenhüte mit leicht staubigen Federn, Zylinder und Fedoras. Er nimmt einen Zwanziger-Jahre-Kapotthut mit weißen Seidenblumen an der Seite und setzt ihn mir auf. Kichernd betrachte ich mich in dem angelaufenen Spiegel – ich glaube, ich habe damals sogar so einen Hut besessen, als sie in Mode waren.
Noah richtet seine Kamera auf mich und schießt ein Foto, runzelt dann jedoch die Stirn. »Du solltest nicht lächeln«, erklärt er. »Die Leute waren früher immer so ernst auf den Bildern.«
Ich versuche zu gehorchen, aber ich kann ein Grinsen einfach nicht unterdrücken.
»Nein«, sagt er, als er die Aufnahme auf dem Display der Kamera betrachtet, »du wärst früher niemals zurechtgekommen. Du bist viel zu modern und offen.«
Da muss ich noch mehr lachen.
»Hier, jetzt schieße ich mal ein Foto von dir.« Ich setze ihm einen Zylinder auf, und er reicht mir die Kamera. Ich mache ein paar Aufnahmen und betrachte sie dann auf dem Display. Sein Gesichtsausdruck wirkt abwesend, gedankenverloren.
»Okay«, sagt er, »ich glaube, zu diesem Zylinder gehört ein Smoking.«
Die Türglocke erschreckt mich so sehr, dass ich gegen eine Kommode stolpere, auf der einige Parfümflakons aufgereiht stehen. Einer davon fällt zu Boden und zerspringt, bevor ich ihn auffangen kann.
»Verdammt, Sera«, fluche ich leise.
»Wer?«, fragt Noah.
Panik überkommt mich. »Wie bitte?«
»Du hast gerade einen Namen gesagt – wen hast du damit gemeint?« Er kniet sich hin und beginnt, die
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