Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
zuckte Angst über sein Gesicht, und er trat einige Schritte zurück. »Was willst du?«, fragte er.
»Wollen?« Cyrus lachte bitter. »Sind wir denn keine Freunde mehr?«
»Cy…«, begann Nathaniel.
»Wie geht es der Frau? Hast du ihr gesagt, was du bist?« Cyrus ging auf Nathaniel zu. »Hast du ihr von uns erzählt?« Noch ein Schritt und noch einer.
Nathaniel schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe ihr nichts erzählt. Cyrus, es tut mir leid, dass ich dich verlassen habe. Es war die einzige Möglichkeit.«
Der Schnee fiel leise auf uns herab, bedeckte den Boden. Zuerst weiß, dann orange unter dem matten Licht der Gaslaternen. Zitternd vergrub ich die Nase in meiner Fellstola.
»Ich habe dich wie einen Bruder geliebt«, knurrte Cyrus. »Und du hast mich verraten.«
Seine Hand schoss hinunter zu seinem Stiefel, in dem er immer ein scharfes Messer bei sich trug. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er Nathaniel erstochen. Ich weiß es nicht genau, wahrscheinlich mitten ins Herz. Ich schrie auf, als Nathaniel hintenüber in den Schnee fiel und sein Blut das reine Weiß tränkte, bis er in einem großen roten See dalag. Sein Körper zerfiel zu Staub.
Als ich realisiere, dass mich die ganze Klasse anstarrt und offensichtlich auf etwas wartet, werde ich aus meinen Erinnerungen gerissen. Cyrus muss mir eine Frage gestellt haben, doch ich habe keine Ahnung, worum es geht. Ich schlucke, öffne den Mund. Bevor ich mich noch mehr zur Idiotin machen kann, ertönt die Klingel.
Gnädigerweise wird die Stille von den Geräuschen der aufbrechenden Schüler übertönt. Ich bin schon fast aus der Tür, als ich meinen Namen höre.
»Kailey, nicht wahr?«, fragt Cyrus nach einem Blick auf den Sitzplan. »Bitte bleib doch noch einen Moment.«
Kapitel 24
I n der Falle. Die Worte hallen in meinem Kopf wider, bis sie keinen Sinn mehr ergeben. Nun sehe ich an Kaileys hübschem weißem Kleid hinab und mache mir irrationalerweise Sorgen, ob es beschädigt wird, wenn Cyrus mich bestraft. Weißes Kleid, weißer Schnee, rotes Blut.
Ich gehe auf das Pult zu. Schweigend blickt er auf meine Handgelenke. Ich verschränke die Arme vor der Brust und hoffe, dass er endlich sagt, was er mir mitzuteilen hat. Sein Blick folgt meinen Händen.
»Mr. Shaw?«, erinnere ich ihn und spiele das Spiel mit. Ich habe keine andere Wahl.
»Richtig, Entschuldigung. Ich war in Gedanken.« Er lächelt dieses strahlende, eisige Lächeln, das seine perfekten weißen Zähne entblößt. »Wie fandest du den Unterricht heute?«
Den Unterricht? Er spielt mit mir wie eine Katze mit ihrer Beute. »Ich … interessant.«
»Wirklich? Denn du scheinst mit den Gedanken ganz woanders gewesen zu sein.« Sein Tonfall ist ernst. »Wenn dich der Stoff nicht interessiert, dann mache ich meine Arbeit nicht richtig.«
Ich hole tief Luft. »Es tut mir leid, ich …«
»Kein Grund, dich zu entschuldigen. Es ist ganz eindeutig meine Schuld. Ich verspreche, dass die zukünftigen Unterrichtsstunden um einiges spannender sein werden. Aber ich habe dich nicht deshalb gebeten zu bleiben.« Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und faltet die Hände im Schoß. Sein Gesicht wird weich. »Die Schulverwaltung hat mir gesagt, dass eine Schülerin aus dieser Klasse erst kürzlich in einen furchtbaren Autounfall verwickelt war. Da mache ich mir natürlich große Sorgen.« Seine Augen – eisblau – blicken mich aufmerksam an, lauern auf eine Reaktion.
Er lügt. Ich bin mir sicher, dass niemand an der Schule von dem Unfall weiß. »Um wen handelt es sich denn?«, frage ich, nun etwas sicherer.
Er seufzt. »Das haben sie mir nicht gesagt. Sehr ärgerlich, wirklich. Posttraumatische Stressreaktionen, selbst Hirnschäden, können noch Wochen nach so einem Vorfall auftreten. Ich muss wissen, wer sie ist, damit ich bei ihr ganz besonders auf Anzeichen von Folgeschäden achten kann.«
Das erscheint mir für einen Lehrer dann doch etwas seltsam. Jeder andere Schüler hätte es wahrscheinlich, ohne darüber nachzudenken, akzeptiert und ihn einfach nur für besorgt gehalten. Ich dagegen kenne ihn und spüre den bebenden Zorn hinter der Fassade seiner Worte.
Offenbar weiß er tatsächlich nicht, wer in den Unfall verwickelt war. Das gibt mir Kraft. »Ich habe nichts von einem Autounfall gehört«, lüge ich.
»Nein? Vielleicht hat das Mädchen seinen Freunden nichts davon erzählt. Denk bitte noch einmal nach. Hat sich eine aus deiner Klasse in letzter Zeit seltsam verhalten?
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