Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
sein. Egal, was in euren Lehrbüchern steht, das Gehirn ist bisher nur zum Teil erforscht. Manche sagen, der Weltraum sei die letzte Grenze. Doch was ist mit dem Bewusstsein?« Er verstummt, das Kinn in die Handfläche gestützt. »Das mag jetzt philosophisch klingen, aber Biologie ist die Lehre vom Leben. Nur wo in diesem Zellchaos sitzt das Bewusstsein? Ist es eine chemische Reaktion?«
Ich kann ihm nicht länger zuhören, aber an den Gesichtern meiner Mitschüler sehe ich, dass sie völlig fasziniert sind. Alles ist so unwirklich, doch ich bin schon lange genug auf der Erde, um den Unterschied zwischen Wachen und Träumen zu kennen.
Was hat mich verraten? Ich muss irgendeinen Fehler gemacht haben. Wahrscheinlich habe ich sogar unzählige Fehler begangen. Angefangen mit dem Abstecher in die Bar. Mit Taryn zu sprechen. Die Tasche nicht mitzunehmen. Es war sicher ein Fehler, Kailey retten zu wollen – und mich dann auch noch als sie auszugeben. Mit sinkendem Mut erkenne ich, dass es vermutlich auch ein gravierender Fehler war, das Auto als vermisst zu melden. Was, wenn die Polizei den Mann angerufen hat, von dem ich es gekauft habe? Was, wenn ich den Verlauf in meinem Browser nicht ordentlich gelöscht habe und Cyrus gesehen hat, dass ich mir ein Auto gekauft habe?
Wie konnte ich auch nur für eine Sekunde glauben, dass Cyrus mich nicht aufstöbern würde? Er bekommt immer, was er will. Immer.
Ich werde bald genug herausfinden, ob er weiß, dass ich mich in Kaileys Körper verstecke, da mache ich mir keine Illusionen – ich habe ihn betrogen, und dafür werde ich bezahlen müssen. Vermutlich wird er mich nicht töten. Nach der Nachricht, die ich ihm hinterlassen habe, weiß er, dass ich nicht mit ihm zusammen sein will. Wahrscheinlich würde er mich einsperren und mich dazu zwingen, die Körper von Unschuldigen zu nehmen, bis in alle Ewigkeit. Cyrus hat es schon immer genossen, seine ganz speziellen Foltermethoden anzuwenden.
In all den Jahren, die ich ihn jetzt kenne, hatte Cyrus nur einen echten Freund. Nathaniel hat sich uns im neunzehnten Jahrhundert angeschlossen, als wir in New York lebten. Nathaniel konnte sich für Naturwissenschaften, Metaphysik und die Chemie der Spiritualität genauso begeistern wie Cyrus. Doch eines Abends erzählte Nathaniel mir, dass er sich in eine menschliche Frau verliebt habe.
»Ada heißt sie«, sagte er. »Sie ist wunderschön.« Seine Augen waren todernst. »Ich habe es Cyrus noch nicht gesagt, aber ich schwöre dir, dass ich diese Frau heiraten werde.«
Ich kicherte. Das Eheversprechen erhielt für einen Wiedergeborenen eine ganz neue Bedeutung. »Bis dass der Tod uns scheidet« – wir verstanden die Ernsthaftigkeit dahinter wie kaum ein Sterblicher.
Später an jenem Abend hörte ich, wie Cyrus und Nathaniel sich in der Bibliothek stritten.
»Sie ist eine Sterbliche! Du wirst zusehen können, wie sie alt wird, und du wirst in nicht allzu ferner Zukunft einen neuen Körper brauchen. Was willst du ihr dann sagen? Du kannst ihr nicht einmal Kinder schenken«, brüllte Cyrus.
»Das spielt keine Rolle«, antwortete Nathaniel. »Ich werde sie auch lieben, wenn sie alt ist.«
Am nächsten Morgen war Nathaniel verschwunden. Zuerst machte sich Cyrus kaum Sorgen. »Er wird zurückkommen«, verkündete er uns fest überzeugt. Doch aus Tagen wurden Wochen, und irgendwann bedeckte der erste Schnee die Straßen der Stadt. Cyrus durchsuchte ganz Manhattan, durchkämmte die Five Points in der festen Überzeugung, Nathaniel tot oder verletzt zu finden. Eines Tages sah Cyrus endlich ein, dass Nathaniel uns verlassen hatte.
Er war niedergeschlagen, saß tagelang in seiner Bibliothek, las Bücher oder starrte aus dem Fenster und schnauzte die Bediensteten an, die ihm etwas zu essen brachten. Er schleppte mich in der Nacht mit nach draußen, in Spielhöllen und Bars, in verrauchte Kneipen, in denen Männer wilde Lieder über die Liebe auf der Geige spielten. In einer verschneiten Nacht fiel uns vor uns eine vertraute Gestalt auf.
»Nathaniel!« Cyrus packte mich an der Hand und zog mich in den Schatten, dann folgten wir dem Mann über viele Blocks.
»Cyrus«, flüsterte ich. »Lass uns heimgehen.«
»Nein«, zischte er. »Ich will … nur mit ihm reden. Ich vermisse ihn, Sera.«
Ich gehorchte und hielt im Schatten mit ihm Schritt, bis er ins Licht trat und seinen alten Freund stellte.
»Nathaniel.« Cyrus klang stark, sicher.
Der Angesprochene fuhr herum. Als er uns sah,
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