Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
bis er den Pinsel beiseitelegt und auf mich zugeht. Sein Schritt ist langsam und kontrolliert, jedoch völlig zielstrebig, und das Feuer in seinen Augen brennt immer heißer, bis ich die Hitze regelrecht zu spüren glaube. Ich tue so, als wäre ich viel zu sehr mit meiner Pose beschäftigt, um seine Nähe zu registrieren, die kribbelnde Hitze, die mich durchströmt, die in und um mich herum fließt – ein Verführungsspiel, das wir beide immer wieder gern spielen.
Doch anstatt mich in seine Arme zu schließen, bleibt er mit unsicherer Miene vor mir stehen und tastet mit zitternden Fingern in seiner Tasche nach einem kleinen silbernen Fläschchen, welches das sonderbare, rot leuchtende Gebräu enthält, das er häufig trinkt. Unvermindert brennt sich sein Blick in meinen, aber neben dem gewohnten Rausch des Verlangens lugt dahinter etwas anderes hervor, das ebenso unmöglich zu deuten wie zu leugnen ist.
Mit unsicherem Griff umfasst er das Fläschchen und hält es mir hin. Sein ganzer Körper drängt mich, es zu nehmen und den Trank zu probieren, während sein gequälter Blick eine ganz andere Geschichte erzählt. Er spricht von einem geheimen Kampf, der in ihm tobt, bis seine Miene – bezwungen von einer unbenannten Angst – zu einem Ausdruck so bitterer Entschlossenheit wechselt, dass er das Fläschchen zurückzieht und stattdessen nach mir greift.
Er breitet die Arme aus und drückt mich fest an seine Brust, wobei sein Körper solche Liebe, solche Verehrung
ausdrückt, dass ich die Augen schließe und mich gegen ihn sinken lasse. Ich versinke im Gefühl seiner Berührung, seiner Lippen, die mit meinen verschmelzen, und tauche in den herrlichen, schwerelosen Genuss ein, bei ihm zu sein. Als tanzte man durch Wolken und surfte über Regenbogen, erheben wir uns über die Schwerkraft und kennen keine Grenzen. Verschmolzen in einem endlosen, seelenvollen Kuss, wie wir ihn zuhause auf der Erdebene nicht mehr wagen dürfen.
Wir küssen uns auf eine Art, die zwar wesentlich besser ist als die, die uns zuhause vergönnt ist, jedoch ebenfalls den Einschränkungen der vorausgegangenen Ereignisse unterliegt.
Seine Finger wandern nach oben und greifen nach dem lockeren Seidenknoten in meinem Nacken. Gerade will er ihn lösen, mich entkleiden, da gebe ich – sie! – einen kleinen Protestlaut von mir und stoße ihn weg. Und, ehrlich, in diesem Moment muss ich sie einfach verfluchen.
Die dumme Fleur.
Das dumme Mädchen, das ich war.
Also, wenn sie schon so verteufelt selbstbewusst war – so sorglos und selbstsicher –, warum hat sie ihn dann aufgehalten, gerade als es richtig gut zu werden versprach, gerade als sie …
Voller Ärger darüber, dass mir die Entscheidungen, die ich damals getroffen habe, auch heute noch nachhängen und bestimmen, was wir tun können, wie weit wir gehen dürfen, wächst meine Frustration dermaßen an, dass ich im nächsten Moment aus dem Szenenbild geworfen werde.
Aus der handelnden Person heraus.
Heraus aus Fleur und zurück zu meinem jetzigen Ich, Ever.
Mit aufgerissenen Augen stehe ich da und schnappe nach Luft. Ich staune darüber, dass ich nach wie vor Teil der Szenerie bin und alles verfolgen kann, was sich vor meinen Augen abspielt, auch wenn ich keine der Hauptrollen mehr bekleide.
Ich hatte keine Ahnung, dass das möglich ist. Dass ich mich gezielt zur reinen Zuschauerin reduzieren kann. Dass so etwas überhaupt geht.
Doch während ich hier stehe und über all diese Wunderlichkeiten staune, bekommt Damen überhaupt nichts mit. Er ist viel zu beschäftigt. Viel zu vertieft in den Augenblick, um zu bemerken, dass das Mädchen, das er mühsam zu enthüllen sucht, mittlerweile, nun ja, in Ermangelung eines besseren Begriffs, unbewohnt ist.
»Damen«, flüstere ich, aber er dreht sich nicht um, ja, er merkt nicht einmal, dass sie nur eine leere, seelenlose Hülle ist. »Damen«, wiederhole ich, diesmal ein bisschen schärfer, doch es nützt nichts. Es ist, als sähe man seinem Freund dabei zu, wie er mit einer anderen herumknutscht, auch wenn diese andere du selbst bist. Trotzdem ist es total unangenehm. Es macht mich rasend.
Widerwillig löst er sich von ihr und dreht sich mit einem Blick zu mir um, den man nur als völlig verwirrt bezeichnen kann. Ein tiefes Scharlachrot breitet sich von seinem Hals in seine Wangen aus, als ihm aufgeht, dass er die letzten Sekunden in der Umarmung einer Art Sommerland-Pendant eines vorpubertären Mädchens verbracht hat, das das Küssen
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