Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
Hilfe brauche, vor allem angesichts all dessen, was vor mir liegt, handelt es sich dabei leider nicht um die Hilfe, die Sabine gemeint hat. Es ist nicht die Art von Hilfe, die man auf einem Rezept, auf der Couch eines Psychoanalytikers oder auch im neuesten Ratgeberbuch findet.
Es braucht etwas wesentlich Größeres als das.
Wir starren auf Havens Grab herab. Damens Gedanken verschmelzen mit meinen und erinnern mich daran, dass er – ganz egal, was die Folgen auch sein mögen, ganz egal, was vor uns liegen mag – für mich da ist. Ich hatte keine andere Wahl, als das zu tun, was ich getan habe.
Indem ich Haven getötet habe, habe ich Miles gerettet. Und mich selbst. Sie konnte mit der Macht nicht umgehen, hat jegliche Grenze überschritten. Dass ich sie unsterblich gemacht habe, hat eine ganz neue Seite an ihr zum Vorschein
gebracht – eine, mit der wir nicht gerechnet hatten.
Doch da sind Damen und ich uns nicht ganz einig. Ich neige eher dazu, das zu glauben, was Miles gesagt hat, kurz nachdem ich ihn vor ihr gerettet habe. Dass an Havens dunkler Seite nichts Neues oder Überraschendes war, sondern sie seit jeher vorhanden gewesen sei und Haven schon immer entsprechende Anzeichen gezeigt habe. Als ihre Freunde haben wir uns eben bemüht, das zu ignorieren, es zu übergehen und nur das Gute zu sehen. Doch als ich ihr an jenem Abend in die Augen blickte und sah, wie sie vor Siegesgewissheit leuchteten, als sie Romans Hemd – meine letzte Hoffnung darauf, das Gegengift zu bekommen, das es Damen und mir ermöglicht, richtig zusammen zu sein – in die Flammen warf, da hatte ich keinen Zweifel mehr daran, dass ihre dunkle Seite ihre besseren Anteile komplett ausgelöscht hatte.
Und was Drinas Ableben angeht, tja, da hieß es entweder töten oder getötet werden. Ganz einfach. Roman hat allerdings wirklich Pech gehabt – das war nichts weiter als ein Unfall. Ein Missverständnis tragischster Art, dessen bin ich mir mittlerweile sicher. Ich weiß in meinem tiefsten Herzen, dass Judes katastrophales Eingreifen eine Handlung war, die er nur mir zuliebe begangen hat. Mit den besten Absichten.
Wir entfernen uns vom Grab, langsam, feierlich, und sind uns nur allzu bewusst, dass die Antworten, die wir suchen, hier nicht zu finden sind und unsere beste Chance darin besteht, in den Großen Hallen des Wissens zu suchen und zu hoffen, dass uns das weiterbringt. Wir wollen schon dorthin aufbrechen, als wir es hören. Das Lied, das uns wie erstarrt stehen bleiben lässt:
Aus dem Lehm soll es aufstehen
Sich erheben in weite Traumhöhen
Genau wie du-du-du sollst auch aufstehen …
Damen umfasst meine Hand fester und zieht mich näher zu sich heran, ehe wir uns beide zu ihr umdrehen. Wir betrachten die langen Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst haben, der ihr über den Rücken fällt, und nun offen um ihr uraltes, verwittertes Gesicht schweben, was fast wie ein gespenstischer, silberner Heiligenschein aussieht. Ihre wässrigen, trüben Augen fixieren die meinen.
Aus den finsteren, dunklen Tiefen
Kämpft es sich ans Licht
Sehnt sich nur nach einem
Der Wahrheit!
Der Wahrheit seines Wesens
Doch wirst du es lassen?
Wirst du es wachsen, gedeihen und blühen lassen?
Oder wirst du es in den Abgrund stoßen?
Wirst du seine müde und matte Seele verbannen?
Sie singt das Lied noch einmal und betont dabei das Ende jedes Verses. Immer lauter singt sie: »Aufstehen – Traumhöhen – sollst – Tiefen – Licht – einem – Wahrheit – Wesens – lassen – lassen – stoßen – verbannen – verbannen – verbannen« und wiederholt immer wieder den letzten Teil, während ihr Blick über mich gleitet, prüfend, beobachtend, obwohl ihre Augen blind zu sein scheinen. Dann hebt sie die knotigen, alten Hände, wölbt die Handflächen und hebt sie immer höher, ehe sie die Finger langsam senkt und Aschefontänen aus ihren Händen sprühen.
Damens Griff wird fester, und er wirft ihr einen harten, bedeutungsschwangeren Blick zu. »Nicht weitergehen«, warnt er sie. »Bleiben Sie sofort stehen. Kommen Sie nicht näher«, fügt er hinzu. Er spricht mit ruhiger und sicherer Stimme, jedoch mit einem drohenden Unterton, der nicht zu überhören ist.
Falls sie es gehört hat, so achtet sie nicht darauf. Ihre Füße halten nicht inne, schlurfen weiter, während sie den Blick auf mich fixiert hält und ununterbrochen das Lied singt. Erst kurz vor uns bleibt sie stehen, ganz am Rand des Geländes – der Stelle, wo das Gras
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