Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
schrecklichen Durcheinander, das ich angerichtet habe.
Eine Hand voll Schritte auf den Frieden zu, nach dem ich suche.
Ich meine, ganz im Ernst, was kann denn schon passieren? Bestimmt finde ich dort doch meine Familie, die auf mich wartet, genau wie in all diesen Jenseits-Filmen im Fernsehen?
Ich packe das Tau fester und stemme mich hoch; meine
Beine sind zittrig und wollen mich nicht recht tragen, als ich mich ein ganz kleines bisschen nach vorn beuge, um besser sehen zu können. Dabei überlege ich, wie weit ich wohl gehen muss, bis ich den Punkt erreiche, an dem es kein Zurück mehr gibt. Mir fällt wieder ein, wie Riley behauptet hat, sie hätte es ungefähr halb hinüber geschafft, ehe sie kehrtgemacht hat und losgezogen ist, um mich zu suchen. Nur um sich dabei so im Nebel zu verfranzen, dass sie die Brücke nicht wiederfinden konnte - oder zumindest eine Zeit lang nicht.
Doch selbst wenn ich beschließe weiterzugehen, ganz bis auf die andere Seite, wäre meine endgültige Bestimmung dieselbe wie ihre? Oder wäre es mehr wie ein Güterzug, der plötzlich auf ein anderes Gleis geleitet wird und mich zum ewigen Abgrund des Schattenlandes bringt statt ins wunderschöne Jenseits?
Ich hole tief Luft und verlagere mein Gewicht, hebe einen Fuß vom durchweichten Boden und will ihn gerade vorsetzen, als mich urplötzlich eine tröstliche Woge der Ruhe überrollt …, ein friedlicher Rausch, der nur eins bedeuten kann, den nur ein einziger Mensch in mir auslösen kann. Eine Ruhe, die so gegensätzlich zu Damens Kribbeln und Hitze ist, dass ich nicht im Mindesten überrascht bin, als ich mich umdrehe und Jude neben mir erblicke.
»Du weißt doch, wo die hinführt, oder?« Er deutet auf die sanft schaukelnde Brücke und gibt sich alle Mühe, mit klarer Stimme zu sprechen, doch das nervöse Zittern darin verrät alles.
»Ich weiß, wo sie für andere Leute hinführt.« Mein Blick wandert zwischen ihm und der Brücke hin und her. »Allerdings habe ich keine Ahnung, wohin sie mich bringen wird.«
Er blinzelt, während er mich bedächtig und sorgfältig mustert. Dann sagt er behutsam: »Sie führt auf die andere Seite. Für jeden. Keine Trennlinien. Keinerlei Segregation. Überlass solche Urteile der Erdebene, hier gibt’s das nicht.«
Ich zucke die Achseln und bin nicht überzeugt. Er weiß nicht, was ich weiß. Hat nicht gesehen, was ich gesehen habe. Wie kann er also irgendetwas darüber wissen, was für mich gilt und was nicht?
»Trotzdem.« Er nickt, fängt meine Gedanken laut und deutlich auf. »Ich weiß nicht recht, ob du das überhaupt schon in Erwägung ziehen solltest. Das Leben ist ohnehin kurz genug, weißt du? Sogar an den Tagen, an denen es einem echt unheimlich lang vorkommt. Wenn alles vorbei ist, war’s in Wirklichkeit nur ein kurzes Aufblitzen in der Ewigkeit, glaub mir.«
»Für dich vielleicht, aber nicht für mich«, erwidere ich und begegne seinem Blick offen und aufrichtig, mache eindeutig klar, dass ich bereit bin, ihm alles zu erzählen. Zu reden, ihm die ganze schäbige Geschichte anzuvertrauen, alles auf den Tisch zu legen, alles und jedes, was ich so lange für mich behalten habe - er braucht nur zu fragen, und er bekommt ein vollständiges Geständnis. »Für mich ist es bestimmt nicht nur ein kurzes Aufblitzen.«
Er reibt sich das Kinn und runzelt die Stirn, versucht ganz offenkundig, einen Sinn in meinen Worten zu finden.
Und mehr ist nicht nötig. Sein Wunsch zu verstehen, und alles bricht hervor. Alles. Ein absoluter Wortschwall, so schnell und so wüst, dass alle durcheinandergeraten. Das Ganze reicht weit zurück, von jenem allerersten Tag am Unfallort, wo Damen mir zum ersten Mal das Elixier verabreicht und mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin, bis zu der Wahrheit über Roman, wer er wirklich ist und wie er
dafür gesorgt hat, dass Damen und ich niemals zusammen sein können. Ava und die Zwillinge und die seltsame Vergangenheit, die sie verbindet. Wie ich aus Haven genauso einen Freak gemacht habe, wie ich einer bin, die Chakren und dass die einzige Möglichkeit, uns auszulöschen, darin besteht, auf unsere Schwächen zu zielen. Und natürlich erzähle ich ihm vom Schattenland, dem ewigen Abgrund, wohin alle Unsterblichen gehen - das Einzige, was mich auf dieser Seite der Brücke hält. Die Worte sprudeln so schnell hervor, dass ich ihnen nicht Einhalt gebieten kann. Es nicht einmal versuche. Ich bin so erleichtert, alles loszuwerden, angestachelt von seiner
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