Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Stimme, dass es fast den Anschein hat, als spräche sie mit sich selbst statt mit mir. »Vielleicht bringst du mir ja eines Tages bei, wie das geht.«
»Wohl kaum.« Ich seufze und schramme gerade noch daran vorbei, erneut in ihren Kopf zu spähen, um zu sehen, was sie wirklich im Schilde führt, ehe ich mir sage, dass das falsch ist und ich Geduld haben und die Sache ihren natürlichen Gang gehen lassen muss.
»Dann macht es vielleicht Jude.« Sie zieht eine Braue hoch und schaut mich herausfordernd an, als wollte sie mich auf die Probe stellen – vielleicht ist es aber auch eine kaum verhohlene Drohung.
Doch ich presse nur die Lippen zusammen und äuge zu meinem Spind hinüber, da ich endlich all die Bücher ablegen will, die ich schon »gelesen« habe, und mich auf den Weg zu Damen machen, der in seinem Auto auf mich wartet. »Verlass dich nicht darauf«, sage ich, wobei ich lieber in keiner Form über Jude nachdenken möchte. Abgesehen von einer gelegentlichen SMS, um mich kurz zu erkundigen, ob es ihm immer noch gut geht, er noch lebt und Haven ihn noch nicht attackiert hat, haben wir seit dem Abend, an dem
er Roman getötet hat, eigentlich nicht mehr miteinander gesprochen.
Seit dem Abend, als ich in die heikle Lage versetzt wurde, keine andere Wahl zu haben, als ausgerechnet den Menschen zu beschützen, auf den ich so wütend bin, dass ich ihn am liebsten eigenhändig umbringen würde.
»Nach dem letzten Stand der Dinge zählt Gedankenlesen bisher noch nicht zu seinen Talenten«, füge ich hinzu, während ich mir die Tasche über die andere Schulter hänge und ihr einen Blick zuwerfe, der sagt: Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst, aber falls es um irgendetwas Konkretes geht, solltest du langsam mal auf den Punkt kommen!
Achselzuckend wendet sie sich ab und lässt den Blick den Flur entlangschweifen. »Willst du denn nicht, dass sie für all das bezahlt, was sie angerichtet hat?« Sie dreht sich wieder um und sieht mich mit ernster Miene an. »Ich meine, die ganzen Gemeinheiten, die sie dir angetan hat, erst der Schulverweis, dann das Video auf YouTube, Damen …« Sie macht eine Kunstpause und hofft offenbar auf eine Reaktion, doch sie kann Pausen machen, so viele sie will, ich habe nicht vor, in absehbarer Zeit zu reagieren. »Auf jeden Fall«, fährt sie eilig fort, nachdem sie meinen Gesichtsausdruck interpretiert hat und weiß, dass ich kurz davor bin, zu gehen, »wundert es mich eben irgendwie, dass du nicht sofort darauf anspringst. Ich hätte eigentlich gedacht, dass du die Erste in der Schlange wärst – oder vielmehr die Zweite, du weißt schon, gleich hinter mir.«
Ich hole tief Luft und will nur noch schnellstens hier raus und den besseren Teil meines Tages beginnen, aber ich bleibe noch einen Moment, um ihr etwas zu entgegnen. »Tja, dann pass mal auf, Honor, wenn du dir die Sache nämlich genau ansiehst, dann musst du zugeben, dass du auch ziemlich
fies zu mir warst.« Sie tritt verlegen von einem Bein aufs andere, was mich zum Weiterreden veranlasst. »Ja, du hast sogar eine große Rolle bei meinem Schulverweis gespielt, wie du weißt, und wir wollen auch nicht vergessen, dass du an dem Tag bei Victoria’s Secret direkt neben ihr gestanden hast, als sie das Video von mir gemacht hat, das dann übers Internet verbreitet wurde. Und selbst wenn es nicht deine Idee war, wenn du bloß dabeigestanden und zugeschaut hast, tja, global betrachtet, ist das doch im Grunde das Gleiche. Es macht dich nicht weniger schuldig, sondern zur Komplizin. Wenn du nämlich nicht versuchst, eine Giftschlange aufzuhalten, sondern weiter mit ihr befreundet bleibst, dann wirst du praktisch zur Mittäterin bei allem, was die Giftschlange in deiner Gegenwart tut. Trotzdem mobbe ich dich nicht, und ich bin auch nicht versessen darauf, mich an dir zu rächen, oder? Und weißt du, warum?« Ich halte inne, da ich spüre, dass ihr Interesse eher nachlässt als zunimmt, rede aber trotzdem weiter. »Weil es das nicht wert ist. Es lohnt weder meine Zeit noch meine Mühe. Dafür ist nämlich Karma da – um am Ende alles ins Gleichgewicht zu bringen. Ehrlich, du musst noch mal über deinen Plan nachdenken. Er ist total fehlgeleitet und eine Riesenzeitverschwendung für dich. Denn in Wirklichkeit bist du selbst gar nicht so unschuldig, und solche Sachen neigen oft dazu, sich, ohne dass man es kommen sieht, zum Bumerang zu entwickeln.« Ich nicke, ohne zuzugeben, dass ich das aufgrund meiner eigenen schmerzlichen
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