Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
an, als täte mein Anblick ihr weh. »Ach, und jetzt hast du Angst, dass du am ersten Schultag dabei erwischt wirst, wie du heimlich auf dem Klo herumlungerst?« Sie schnalzt mit der Zunge gegen die Innenseite ihrer Wange und hebt eine Hand, um die zahlreichen silbernen und blauen Ringe zu bewundern, die sie an jedem Finger trägt. »Warum du derart großen Wert darauf legst, dich so normal zu verhalten – so lächerlich gewöhnlich –, werde ich nie begreifen. Mal im Ernst, du bist wirklich der jämmerlichste Abklatsch einer Unsterblichen, den ich je gesehen habe. Roman hatte Recht: Du und Damen, ihr seid alle beide nichts als Platzverschwendung.« Sie
atmet so heftig aus, dass ein Hauch bitterer Kälte durch den Raum weht. »Was bringt dir das eigentlich im Endeffekt ein? Einen Orden und eine hübsch gerahmte Urkunde, auf der dir bestätigt wird, dass du unangefochten die allerschlimmste Streberin bist?«
Sie streckt mir die Zunge heraus und verdreht die Augen auf eine Art, die mich an die alte Haven erinnert, die Haven, mit der ich einmal befreundet war, doch ebenso rasch ist es wieder vorbei, und sie fährt fort: »Aber was noch wichtiger ist – warum kümmert dich das überhaupt? Denn nur für den Fall, dass du es noch nicht gemerkt hast: Die Schulordnung ist für Leute wie uns ziemlich belanglos. Wir können tun, was immer uns verflucht noch mal in den Sinn kommt, wann auch immer wir wollen, und niemand kann uns aufhalten. Also solltest du jetzt nicht nur ein bisschen lockerer werden und dich mal wieder entspannen, sondern du könntest auch dein Talent als Schleimerin wesentlich besser nutzen. Wenn du nämlich überhaupt bei jemandem gut angeschrieben sein willst, dann am besten bei mir .« Sie runzelt die Stirn und sieht mir direkt in die Augen. »Ich meine, Damen hast du ja schon ruiniert – seit er mit dir zusammen ist, wird er irgendwie immer langweiliger.« Sie lässt sich Zeit, um über ihre eigene Bemerkung zu grinsen. »Trotzdem überlege ich mir, in seinen Englischunterricht in der fünften Stunde zu wechseln, und wenn, dann werde ich mich wahrscheinlich auch gleich neben ihn setzen. Stört dich das?«
Achselzuckend beschäftige ich mich mit meinen Fingernägeln, obwohl sie sauber, glatt und unlackiert sind und so kurz, dass es nicht viel zu sehen gibt. Aber ich gehe nicht auf ihre Provokation ein, und ich werde ihr garantiert nicht die Genugtuung gönnen, die sie sich wünscht.
Im Grunde ist es ihr auch egal; sie hört sich viel lieber
selbst reden, und so schwafelt sie einfach weiter. »Ich meine, einerseits hat er diese gefährlich-verruchte Ausstrahlung total verloren, die mir so gefallen hat, andererseits könnte ich wetten, dass er irgendwo ganz tief in seinem Inneren noch eine ordentliche Portion davon vergraben hat. Ganz, ganz tief drinnen.« Auf einmal sieht sie mich mit leuchtendem Blick an. »Wenn etwas nämlich dermaßen tief verwurzelt ist, wenn sich etwas über so viele Jahrhunderte zurückverfolgen lässt, dann ist es schwer, es komplett abzuschütteln, falls du mir folgen kannst.«
Ich habe nicht nur keine Ahnung, was sie meint, sondern kann auch nicht in ihren Kopf spähen, um selbst nachzusehen, da ihr Schutzschild dafür viel zu mächtig ist. Ich kann bloß dastehen und so tun, als wäre es mir egal. So tun, als würden mich ihre Worte nicht im Geringsten neugierig machen oder interessieren, obwohl ich zu meiner Schande gestehen muss, dass das Gegenteil zutrifft.
Sie weiß etwas. So viel steht fest. Das ist nicht nur gespielt. Sie weiß irgendetwas über Damen oder vielmehr seine Vergangenheit – und sie bettelt mich praktisch an, ihr das Geheimnis abzuluchsen.
Und genau deshalb kann ich nicht.
»Ich meine, du hast es dir wahrscheinlich schon gedacht, aber Roman hat mir einige ziemlich üble Geschichten erzählt. Manches davon weißt du sicher schon, also brauchen wir darüber nicht noch mal zu reden, aber dann hab ich neulich seine Sachen durchgeschaut und bin auf einen dicken Stapel Tagebücher gestoßen.« Sie hält inne, um ihre Worte auf mich wirken zu lassen. »Also, das hättest du wirklich sehen müssen – es waren echt Unmengen von Tagebüchern, ganze Kisten voll. Offenbar hat Roman alles notiert. Er hat Hunderte, Mann, vielleicht sogar Tausende von Tagebüchern
geführt – ich konnte sie gar nicht mehr zählen. Aber jedenfalls, soweit ich weiß, reichen sie Jahrhunderte weit zurück. Er hat nämlich nicht nur Antiquitäten und andere schöne Dinge gesammelt,
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