Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Gefühl es ist, jetzt ich zu sein.« Sie plustert ihre Haare auf, streicht ihr Kleid vorn und an den Seiten glatt und sieht sich bewundernd im Spiegel an der Wand gegenüber an, während sie dafür sorgt, dass alles perfekt sitzt.
Einen Moment lang reißt sie sich von ihrem Spiegelbild los, um mich anzuschauen, wobei sie tief und laut seufzt und mich voller Mitleid betrachtet. »Das habe ich übrigens wörtlich gemeint«, sagt sie. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es ist, ich zu sein. Wie es ist, ganz oben zu stehen – an der Spitze deiner eigenen Show.« Sie grinst und fasst in ihrem Spind ins oberste Fach, wo sie ihre vielen Ringe abgelegt hat. »Ich meine, geben wir’s doch zu, ohne grausam zu sein oder irgendwas, aber du bist so ziemlich dein ganzes Leben lang der Loser gewesen, und selbst jetzt, da du – zumindest theoretisch – alles oder jeden haben kannst, was oder wen du willst, hast du dich trotzdem wieder dafür entschieden, eine Riesennull zu sein.« Sie schüttelt den Kopf und steckt sich die Ringe an die Finger, eine Aufgabe, die
angesichts der Zahl der Ringe reichlich Zeit in Anspruch nimmt. »Ich meine, wenn es nicht so lustig wäre, wäre es traurig. Trotzdem muss ich zugeben, dass du mir zu einem ganz winzigen Teil leidtust.«
»Und abgesehen von diesem winzigen Teil?« Ich sehe sie an und verfolge, wie sie ihre Haare zurechtstreicht und sie sich um Gesicht und Schultern drapiert.
Sie lacht. Zufrieden mit ihrer Frisur, wühlt sie in ihrer Tasche nach Lipgloss, ehe sie mir erneut einen Blick zuwirft. »Tja, der andere Teil von mir wird dich töten. Aber das weißt du ja schon.«
Ich nicke so beiläufig, als hätte sie gerade eine banale Bemerkung gemacht, statt eine Drohung gegen mein Leben ausgestoßen.
»Ich meine, versteh mich nicht falsch, ursprünglich hatte ich vor, zuerst Jude zu töten, weißt du, ihn direkt vor deinen Augen zur Strecke zu bringen, etwas in der Art. Aber dann, als ich genauer darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass es viel mehr Spaß machen würde, die Sache umzudrehen und zuerst dich zu erledigen. Du weißt schon, ihn ganz wehrlos und allein zurücklassen, ohne irgendjemanden, der in der Lage, geschweige denn bereit wäre, ihn zu retten. Ich meine, Damen wird sich dafür bestimmt nicht zur Verfügung stellen – und das nicht, weil er so damit beschäftigt wäre, Stacia zu beschützen, sondern weil er, auch wenn er sich für noch so edel und hilfreich und gut hält, garantiert nicht so furchtbar traurig ist, Jude verschwinden zu sehen, wenn man bedenkt, was in letzter Zeit alles abgelaufen ist.« Schulterzuckend fährt sie sich mehrmals mit dem Pinselchen über die Lippen, wirft dem Spiegel einen Kussmund zu und steckt das Lipgloss wieder in die Tasche. »Ich weiß nicht, war nur so eine Idee. Was meinst du?«
»Was ich meine?« Ich ziehe eine Braue hoch und lege den Kopf schief, sodass mir das Haar vorne übers Kleid fällt.
Wartend sieht sie mich an.
»Ich meine – na, dann mal los.«
Sie prustet vor Lachen, ein tiefes, zwerchfellerschütterndes Lachen. Mühsam schnappt sie nach Atem, streicht erneut ihr Haar glatt, hängt sich die Tasche über die Schulter und mustert sich ein letztes Mal bewundernd im Spiegel. »Das kann nicht dein Ernst sein. Willst du allen Ernstes damit anfangen, jetzt und hier?« Sie sieht mich mit zweifelnder Miene an.
»Es spricht doch nichts gegen jetzt und hier«, erwidere ich achselzuckend. »Ich meine, warum das Unvermeidliche aufschieben, oder?«
Ich erhebe mich von der Bank und stelle mich ohne jede Spur von Furcht vor sie hin, bin mir meiner überlegenen Kraft absolut sicher. Kurz erinnere ich mich an das Versprechen, dass ich abgegeben habe – nämlich dass es an ihr ist, den ersten Schritt zu tun. Ich reize sie nicht, sondern tue nichts weiter als dastehen und warten. Die Folgen sind viel zu ernst, viel zu unabänderlich für einen so rücksichtslosen Schritt. Mein einziges Ziel ist, ihr eine Lektion zu erteilen, sie ein bisschen von ihrem hohen Ross herunterzuholen. Ihr zeigen, dass ich stärker bin, als sie glaubt, und es für sie an der Zeit ist, sich zurückzuziehen und das Feld zu räumen. Wobei ich hoffe, dass sie das dazu anregt, sich alles noch mal zu überlegen und zu begreifen, dass ihr großer, böser Plan nicht so besonders clever ist.
Kopfschüttelnd verdreht sie die Augen, murmelt irgendetwas Unverständliches und versucht, sich an mir vorbeizudrängen, während sie das Ganze mit
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