Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
will auch nicht noch einmal hören, dass du solche Sachen sagst. Und kein Wort davon zu deiner Mutter, damit würdest du sie nur aufregen.« Dad holte tief Luft und versuchte augenscheinlich, sich zu beruhigen. »Außerdem, Bianca, kann es nicht mehr lange dauern. Du warst doch das ganze letzte Jahr begierig genug, ausreichend Blut zu trinken.«
Noch deutlicher hatte mein Dad schon monatelang nicht auf Lucas angespielt. Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden.
»Ich bin nicht naiv. Mir ist völlig klar, dass du und Balthazar inzwischen gegenseitig euer Blut getrunken habt.« Er sprach viel zu schnell bei diesen letzten Worten; vielleicht war ihm dieses Thema ebenso peinlich wie mir. »Du musst ganz kurz davor sein, dass du wirklich bereit bist zu töten, um zu trinken. Ich sehe doch an deinem sonntäglichen Appetit, dass du immer hungriger wirst. Wenn dir das Angst einflößt, mache ich dir bestimmt keinen Vorwurf. Du darfst nur nicht zulassen, dass deine Angst in solch irrsinnige Gespräche mündet. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Ich konnte nichts antworten, und so nickte ich einfach nur.
Wenig später knipste ich meine Lampe aus und versuchte, mich davon zu überzeugen, dass es Zeit fürs Bett sei. Aber nicht nur, dass mich die Unterhaltung mit meinem Vater aufgewühlt hatte, ich war auch kurz vorm Verhungern.
Ein Hoch auf die Einbildungskraft , dachte ich. Dad hatte meinen Appetit erwähnt, und schon war ich hungriger als die ganze Zeit vorher - und das trotz der Tatsache, dass ich beinahe einen halben Liter Blut zum Abendbrot getrunken hatte.
Wenigstens musste ich dieses Mal nicht heimlich meine Thermosflasche unter dem Bett hervorfischen. Im Kühlschrank meiner Eltern würde ich so viel Blut finden, wie ich haben wollte.
Auf Zehenspitzen schlich ich an meinen schlafenden Eltern vorbei in die Küche. Meine nackten Füße tappten leise über den Fliesenboden. Anstatt das Licht anzumachen, verließ ich mich auf meine Nachtsicht und den hellen Spalt, der breiter wurde, je weiter ich die Kühlschranktür öffnete. Das richtige Essen für mich stand ganz unten, aber der Großteil des Kühlschranks war mit Flaschen, Gläsern und Beuteln voller Blut gefüllt. Vorsichtig nahm ich einen dieser Beutel heraus; normalerweise trank ich nicht aus ihnen, denn sie waren schwer zu beschaffen und eine besondere Belohnung, die meine Eltern dringender als ich benötigten. Sie enthielten Menschenblut.
Vielleicht hatte mein Vater recht. Es könnte sein, dass mein Verlangen nach Blut deshalb so drängend geworden war, weil ich so lange schon kein menschliches Blut mehr zu mir genommen hatte. Vielleicht war es das, was ich jetzt brauchte. Wenn Dad mich hinterher anbrüllen würde, weil ich seinen Anteil verputzt hatte, dann würde ich ihn darauf hinweisen, dass er es schließlich angeregt hatte.
Ich presste den Inhalt des Beutels in einen großen Becher und erwärmte ihn in der Mikrowelle. Auch wenn der Zeitmesser so laut war, dass ich zusammenzuckte, wachten meine Eltern nicht auf, und ich beeilte mich, zurück in mein Zimmer zu kommen.
Der heiße Becher verbrannte mir fast die Finger, aber der intensive, fleischige Duft des Blutes überlagerte den Schmerz, meine Sorgen und auch sonst so ziemlich alles. Schnell führte ich das Gefäß an meine Lippen und trank.
Ja . Das war es, wonach es mich aus ganzem Herzen verlangte. Die Hitze erfüllte mich bis ins Mark und strahlte von innen heraus. Menschliches Blut bewirkte etwas ganz anderes als Tierblut bei mir: Ich fühlte mich wie berauscht und hellwach, und meine Sinne waren geschärft. Mit beiden Händen umklammerte ich den Becher und schluckte so gierig, dass ich kaum noch atmen konnte. Es war, als würde ich in der Wärme versinken. Im Vergleich dazu war der Rest der Welt kalt …
Halt mal .
Ich ließ den Becher sinken und leckte meine Lippen sauber, als ich plötzlich stockte. Die Luft im Zimmer war mit einem Mal viel kälter. Hatte der Wind eines der Fenster aufgestoßen? Nein, sie waren noch immer alle geschlossen und von Raureif überzogen. Aber war das vor einigen Minuten auch schon der Fall gewesen? Kurz bevor ich aufgestanden war, um das Blut zu holen, hatte ich einen Blick nach draußen geworfen und die Silhouette des Gargoyles vor dem Fenster hocken sehen, welcher nun hinter einer weißen Eisschicht verschwunden war.
Als ich ausatmete, bildete mein Atem Nebel in der Luft. Ich begann zu zittern. Ein bläuliches Glühen zuckte hinter dem Fenster, und
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