Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
sich die Szenerie, und ich konnte etwas erkennen.
Ich war im Weinkeller geblieben, auch wenn ich nicht länger im Bett lag. Stattdessen schien ich unter der Decke zu schweben. Unten konnte ich mich selbst unter der Bettdecke liegen sehen. Mein Gesicht war so bleich wie die Laken, und meine Augen blickten starr.
Neben dem Bett kniete Lucas, seine Stirn auf der Matratze neben meiner reglosen Hand. Er hatte seinen Kopf mit den Armen bedeckt, als ob er versuchen würde, sich vor etwas zu schützen, auch wenn ich nicht wusste, wovor. Seine Schultern bebten, und ich begriff, dass er weinte.
Als ich ihn so voller Schmerz sah, wollte ich ihn trösten. Warum richtete ich mich denn nicht auf und spendete ihm Trost? Ich lag doch unmittelbar vor ihm.
Warte, das bin ich nicht. Ich bin ich . Wie konnte es einen Unterschied geben zwischen der Person, die ich da im Bett liegen sah, und der, die sich all das anschaute? Nichts davon ergab einen Sinn.
Lucas, rief ich. Lucas, ich bin hier. Schau doch hoch. Schau einfach nur hoch.
Aber ich hatte keine Stimme, mit der ich hätte sprechen können, keine Zunge und auch keine Lippen, die meine Worte hätten formen können.
Zu meiner Überraschung hob Lucas dennoch den Kopf. Doch er reckte sein Gesicht nicht zu mir, und er schien auch gar nichts gehört zu haben. Seine Augen waren blutunterlaufen und trüb. Mit dem Handrücken rieb er sich achtlos und grob über die Wange, dann griff er nach mir – nach mir, die ich auf dem Bett lag. Während ich entsetzt und fasziniert gleichermaßen zusah, fuhr er mir mit den Fingern über die Augenlider, um sie zu schließen. Das schien ihn den letzten Rest an Stärke gekostet zu haben, denn kaum dass er fertig war, sank er nach vorne gegen den metallenen Bettrahmen, bewegungslos wie der Körper im Bett. Mein Körper . Nein, das konnte nicht richtig sein. Das durfte ich nicht denken. Was auch immer gerade geschah, war ein Fehler, nichts als ein großer Fehler, und wir würden ihn beheben können, sobald wir herausgefunden hatten, wie.
Ich war doch eben zu ihm durchgedrungen, nicht wahr? Als ich nach Lucas gerufen hatte, hatte er mich gehört, auch wenn er es nicht begriffen hatte. Ich würde ihn noch einmal rufen müssen. Lucas, ich bin hier. Genau hier. Alles, was du tun musst, ist, mich anzuschauen.
Er regte sich nicht.
Vielleicht würde es helfen, wenn ich näher zu ihm käme, dachte ich. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Ich verstand nicht richtig, wie – oder ob überhaupt – ich mich noch immer bewegen konnte, da mein Körper und ich voneinander getrennt zu sein schienen.
Dann sah ich wieder zu Lucas und entdeckte die unverhohlenen Qualen auf seinem Gesicht. Er sah so verzweifelt und allein aus. Ich wollte ihn halten und ihn trösten …
Und dieses Wollen war wie eine Reißleine, die mich von der Decke hinab an seine Seite zog. Mit einem Mal konnte ich die Wärme seines Körpers überall um mich herum spüren, tröstend wie eine Decke, und ich fühlte, dass ich zu ihm durchgedrungen war. »Lucas!«
Er fuhr hoch. Seine Augen wurden groß; er stieß sich vom Bett weg und wich taumelnd in die Ecke des Raumes zurück.
Warum fürchtete er sich? Lucas, ich bin hier.
Aber ich hatte bereits verstanden, dass er nichts von dem, was ich gesagt hatte, gehört hatte, und ich glaubte auch nicht, dass er mich sehen konnte. Lucas blinzelte einige Male, dann ließ er sich gegen die Wand sinken. Zweifellos dachte er, er habe sich alles nur eingebildet.
Dann, völlig unvermittelt, konnte auch ich ihn nicht mehr sehen. Der blaugraue Nebel schloss sich wieder, und ich spürte erneut, wie ich ankerlos davontrieb. Glitt ich hinauf oder hinab? Schwebte ich überhaupt? Ich konnte es nicht feststellen.
Ich muss meinen Körper wiederfinden , sagte ich mir . Wenn ich meinen Körper finde, dann kann ich einfach in ihn zurückkehren . In meiner Vorstellung war es ungefähr so, als würde ich in einen Schlafsack schlüpfen und ihn zuziehen. Das kam mir ganz leicht vor. Aber warum nur konnte ich meinen Körper nicht finden?
Er gehört dir nicht mehr.
Erschrocken versuchte ich, mich umzuschauen, um zu sehen, wer gesprochen hatte. Aber ich konnte nirgends hinschauen und noch weniger irgendetwas in dem wabernden Nebel um mich herum erkennen. Auch hatte ich diese andere Stimme nicht wirklich gehört, sondern eher wahrgenommen.
Ich will zurück in den Weinkeller , entschied ich. Ich will bei Lucas sein. Also werde ich auch bei ihm sein, und zwar genau
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