Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
der Fechthalle und stand Balthazar gegenüber, der mit mir so leichtes Spiel hatte, dass er sogar lachen konnte, während er seinen Degen schwang. Ein anderes Mal wiederum war ich im Schnellrestaurant mit Vic und Ranulf, und sie saßen nebeneinander, beide in ihren Hawaiihemden. Und dann befand ich mich neben Dana im Wagen, und sie drehte das Radio laut und sang mit.
Ich war im Wald mit meinem Vater, lauschte auf die Schreie der Eulen und sprach mit ihm darüber, warum ich in Evernight bleiben musste. Dann war ich mit Lucas in Riverton, hielt andächtig die Brosche in der Hand, die er mir geschenkt hatte, und sah voller Dankbarkeit und Liebe zu ihm empor.
Warum sollte ich je aus diesen Träumen aufwachen?
Als mein Kopf endlich wieder klarer wurde, bemerkte ich, dass es Nacht war. Ich hatte keine Ahnung, ob die Dunkelheit gerade erst hereingebrochen oder ob es schon zwei Uhr morgens war. Erschöpft drehte ich den Kopf und suchte nach Lucas. Er stand mit bleichem Gesicht neben meinem Bett. Als sich unsere Blicke begegneten, lächelte ich, doch er erwiderte es nicht.
»He«, flüsterte ich. »Wie lange war ich weg?«
»Zu lange.« Lucas kniete sich hin. Sein Gesicht war nun ungefähr auf meiner Höhe. »Bianca, ich will dir ja keine Angst machen, aber … was da mit dir geschieht …«
»Ich weiß. Ich kann es fühlen.«
Wieder trafen sich unsere Blicke, und der Schmerz in Lucas’ Augen wog beinahe schwerer als die Angst und die Traurigkeit, die ich selber verspürte. Er schloss die Augen und hob das Gesicht zur Decke: Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, er würde beten.
Dann sagte er. »Ich will, dass du von mir trinkst.«
»Ich habe keinen Appetit auf Blut«, wisperte ich.
»Du verstehst mich nicht.« Lucas holte zitternd Luft. »Bianca, ich will, dass du von mir trinkst, bis ich tot bin. Ich will, dass du dich verwandelst. Ich will, dass du eine Vampirin wirst.«
Der Schock machte es mir einen Augenblick lang unmöglich, etwas zu antworten. Ich konnte Lucas nur wortlos anstarren.
»Du hast dich vor langer Zeit vom Vampirsein abgewendet, ich weiß«, sagte Lucas. Er nahm eine meiner Hände. »Aber es scheint so, als sei das deine einzige Chance. Wenn das der Preis dafür ist, dich zu retten, dann ist es doch gar nicht so schlimm, oder? Du könntest zurück zu deinen Eltern gehen. Für immer jung und schön sein.«
So einfach war das nicht, und das wussten wir beide. Aber wenn Lucas wirklich und wahrhaftig bereit war, diesen Schritt mit mir zu machen, dann konnte ich ihn in Erwägung ziehen.
»Dann würdest du doch auch ein Vampir werden«, sagte ich. »Wir würden den Wandel gemeinsam vollziehen. Könntest du das tun?«
Lucas schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wie bitte?«
»Bianca, du hast es mir versprochen; du hast auf alles geschworen, was dir je etwas bedeutet hat. Sollte ich sterben, dann würdest du mich vernichten, ehe ich zu einem Vampir werden könnte. Lass mich nicht als Vampir wiederauferstehen. Ich bin bereit zu sterben.«
Also konnte er meine Wandlung akzeptieren, nicht aber seine eigene. Die zarte Hoffnung, die ich ein paar Sekunden lang gehegt hatte, war zerschmettert.
Lucas zerrte am Ausschnitt seines T-Shirts und legte seinen Hals frei. Leise wiederholte er: »Trink von mir.«
»Du willst, dass ich dich töte«, flüsterte ich. »Du würdest dein Leben geben, um mich zu retten.«
Er warf mir einen Blick zu, als wenn das so offensichtlich, so notwendig war, und Tränen stiegen mir in die Augen.
»Ich weiß, was ich tue«, sagte er. Die Schatten im Zimmer umrahmten sein Gesicht; es schien, als wenn alles Licht im Raum von ihm angezogen würde. »Ich bin bereit. Ich muss nur sicher sein, dass du wieder gesund wirst. Diese Gewissheit ist alles, was ich noch brauche.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Doch«, beharrte er. Aber ich hatte noch genug Kraft, ihn wegzustoßen.
»Wie soll ich weitermachen, wenn ich weiß, dass du gestorben bist, um mich zu retten? Diese Schuld – so kann ich nicht leben, Lucas. Ich kann es nicht. Du darfst mich nicht darum bitten.«
»Du musst dich nicht schuldig fühlen! Ich will, dass du es tust.«
»Könntest du es?«, fragte ich ihn. »Könntest du mich töten, und sei es auch nur, um dein eigenes Leben zu retten? «
Lucas starrte mich an, und er versuchte, sich das Entsetzliche dieser Tat auszumalen, doch es gelang ihm nicht.
Ich sagte: »Du musst mir versprechen, ein gutes Leben zu führen. Nicht
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