Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
überhaupt nichts bemerkt hatte. Aber es schien den Versuch wert.
Ich konzentrierte mich ganz stark auf Lucas und rief mir ins Gedächtnis, wie sehr ich bei ihm sein wollte. Und dann, als würde ich nach vorne rasen, beinahe zu schnell, um noch etwas wahrzunehmen, war ich bei Lucas, rings um ihn herum, in ihm drin. Seine Trauer wuchs in mir, so mächtig, dass mir schwarz vor Augen wurde und ich mich fühlte, als würde ich ertrinken. Das Verlangen, das ich verspürte, und das gleichzeitige Gefühl von Isolation und Sinnlosigkeit waren beinahe unerträglich.
Lucas zitterte wie von einem Kälteschauer. »Es ist, als wäre sie noch immer hier«, flüsterte er. »Wenn ich die Dinge angucke, die ich ihr geschenkt habe, dann ist mir Bianca so nah.« Lucas legte Armband und Brosche kurzerhand wieder in die Schublade zurück. »Ich kann mich nicht von ihnen trennen.«
»Okay.«
Ich wandte mich wieder Balthazar zu. Was ich sah, brannte sich in meinen Geist ein: ein dunkles Mal, das ich nie wieder würde vergessen können. Balthazar stand dort, in seinem schwarzen T-Shirt und seinen Hosen, als wäre er ein Teil der Nacht, und wiegte meinen toten Körper in seinen Armen. Das weiße Laken verhüllte mich beinahe vollkommen, abgesehen von einer Hand, die herabbaumelte, und meinen wallenden, roten Haaren.
Das ist real. Es ist absolut real.
Ich bin tot.
Balthazar sagte: »Hast du die Geräte, die wir brauchen?«
»In der Garage.« Lucas ließ die Schultern nach vorne hängen, als versuchte er, sich selbst zu beschützen. »Sie … Sie haben hier Schaufeln.«
Schaufeln? Schaufeln. Das will ich nicht sehen. Ich will irgendwo anders sein …
Und dann war ich anderswo … und doch auch irgendwie nirgends. Die Welt war wieder nichts als blaugrauer Nebel. Und inmitten dieses Nebels war ich, verloren und allein. Auch wenn ich dieses Gefühl verabscheute, konnte ich es leichter ertragen als den Anblick von Lucas und Balthazar, die mein Grab aushoben.
Im Nebel begann sich ein Gesicht abzuzeichnen. Ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, mit kurzen, blonden Haaren tauchte dort auf – das Mädchen, das ich schon so häufig gesehen hatte.
»Der Geist.« Meine Worte klangen jetzt so real für mich, auch wenn ich nicht glaubte, dass ein lebendiges Wesen mich würde hören können. »Du bist der Geist. Ich habe dich erst nicht erkannt.«
»Ich bin wohl kaum der einzige Geist«, sagte sie. Ihr Lächeln war dünn und irgendwie selbstgefällig; im Augenblick wollte ich nichts lieber, als es ihr aus dem Gesicht zu wischen. »Und ja, wir klingen hier auf der anderen Seite nicht mehr so wie vorher, nicht wahr? Nicht mehr wie wir selbst.«
»Was geschieht mit mir?«, fragte ich. »Bin ich wirklich tot? Und wenn es so ist, hältst du mich davon ab, zum Himmel emporzusteigen oder ins Licht einzutauchen oder einfach einzuschlafen oder von dem, was die Leute eben so machen sollten, nachdem sie gestorben sind?«
Sie zerteilte den Nebel mit einer ausladenden Armbewegung und verdrängte den wabernden Dunst. »Es gibt viele Möglichkeiten, und du kannst wählen, musst du wissen. Ich halte dich von keiner von ihnen ab.«
Nun, da sich der Nebel gelichtet hatte, merkte ich, dass ich unter uns etwas sehen konnte. Wir schienen über den Bäumen draußen vor dem Haus zu schweben. Eine Bewegung unter mir zog meine Aufmerksamkeit auf sich – Lucas und Balthazar rammten ihre Schaufeln in die Erde und waren mit der schweren Aufgabe beschäftigt, mein Grab auszuheben.
»Das war mein Traum.« Wenn ich doch nur hätte weinen können. Ich wollte so gerne weinen. »Einer der Träume, die ich von dir hatte. Erinnerst du dich an sie?«
»Natürlich nicht.« Sie sah beinahe beleidigt aus. »Das waren doch deine Träume. Deine Visionen von der Zukunft. Ich hatte damit nichts zu tun. Wenn du mich gesehen hast, dann war das genauso wie bei denen dort unten: als Teil dessen, was noch kommen würde.«
»Aber du hast gesagt, ich würde nicht wissen wollen, was sie tun. Denn wenn ich genauer hingesehen hätte, dann hätte ich meinen eigenen Tod vorhergesehen.«
Der Geist legte den Kopf schräg, und die hellen Haare des Mädchens wurden von einer unsichtbaren Brise aufgeweht. »Es ist Zeit, dass du das Leben vergisst, das du verloren hast. Es ist Zeit, die Zukunft willkommen zu heißen.«
»Vergessen? Glaubst du, ich könnte Lucas vergessen? Und was für eine Zukunft werde ich schon vor mir haben, wenn ich tot bin?« Der Nebel rings um uns herum wurde dichter
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