Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
jetzt.
Und so geschah es. Ich war wieder bei Lucas – aber nicht im Weinkeller. Lucas stand in der Auffahrt zum Haus der Woodsons. Anscheinend war ich unmittelbar hinter ihm, denn ich spähte über seine Schulter. Offenbar war es kurz vor Einbruch der Dämmerung. Der Himmel wurde bereits grau und trüb. Ein Wagen war gerade in die Zufahrt eingebogen, und während ich zusah, stieg eine große Gestalt aus.
Balthazar lief über das Gras auf Lucas zu, das Gesicht unbewegt und ernst. Blutergüsse waren auf seiner Haut zu sehen, und er lief langsamer, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Doch offensichtlich hatte er sich von den meisten Verletzungen erholt. »Wie geht es ihr?«, fragte er. Dann schaute er Lucas eindringlich an und blieb wie angewurzelt stehen.
»O nein.«
»Sie …« Lucas brachte die Worte nicht über die Lippen. Ich konnte sehen, wie die Muskeln in seinem Kiefer arbeiteten, als versuchte er mit aller Macht, etwas zu sagen.
»Sie ist fort .«
»Nein.« Balthazar schüttelte den Kopf. Sein Ausdruck war bestürzt, beinahe panikerfüllt. »Nein, du irrst dich.«
Lucas sagte: »Bianca ist tot.«
Dass er es aussprach, machte es real. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Ich wollte wegrennen, aber auch das war unmöglich. Ich konnte mich vor dem, was geschehen war, nicht länger verstecken.
Balthazar sagte: »Lass mich sie sehen.« Lucas’ Erwiderung bestand nur darin, dass er einen Schritt zur Seite trat. Balthazar drängte sich an ihm vorbei, und er schien mitten durch mich hindurchzulaufen. Oh, das fühlte sich seltsam an, aber auch ganz erstaunlich, denn eine Sekunde lang fanden Balthazars Kraft und Verzweiflung und Liebe einen Widerhall in mir. Es war nichts Lebendiges, aber es war etwas Wahrhaftiges, und es war realer, als ich es war.
Als Balthazar in den Weinkeller lief, schien er mich hinter sich herzuziehen. Vielleicht lag das daran, dass er durch mich hindurchgelaufen war, ich wusste es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich spüren konnte, wie ich an den langen Gängen mit Weinflaschen entlangschwebte, auf Balthazars Silhouette zu und dann an ihm vorbei, sodass ich im Raum war und zu ihm zurückschaute, während er auf mich hinabsah.
Mein Körper lag genau da, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte, als Lucas mir die Augen geschlossen hatte. Balthazar stand dort und starrte einige Sekunden lang auf mich nieder, als könnte er das alles nicht glauben. Dann taumelte er zurück, prallte gegen die Wand, und seine Beine gaben nach. Er glitt hinab, bis er auf dem Boden lag, und raufte sich seine lockigen Haare.
Ich versuchte, zu meinem Körper zu schweben; für mich sah er ganz in Ordnung aus. Vielleicht ein bisschen krank, aber er sah nicht viel anders aus, als ich in meiner Vorstellung beim Schlafen aussah. Die einzige Veränderung war die Tatsache, dass ich nicht atmete. Und das konnte ich wieder in Ordnung bringen, nicht wahr? Alles, was ich tun musste, war, in meinen Körper hineinzugleiten.
Nun ja, das klang leicht, was es aber nicht war. Ich sah weiter zu mir hinab und versuchte, die gleiche magnetische Anziehung zu entwickeln, die Lucas und Balthazar inzwischen auf mich ausübten. Wenn ich in diese gleiche Energie vorstoßen konnte, so überlegte ich, dann würde ich in meinen Körper zurückgesogen werden und wieder lebendig sein.
Aber dieser Sog kam nicht.
Nach einer Weile – nach mehreren Minuten, dachte ich, aber ich war mir nicht sicher – rappelte sich Balthazar auf und erhob sich. Hinter ihm hörte ich Lucas’ Schritte. Bald darauf standen sie gemeinsam am Fußende meines Bettes und blickten auf mich.
Balthazars Stimme war heiser, als er fragte: »Was ist geschehen? «
»Es war, wie ich dir im Brief geschrieben habe.« Lucas klang so müde. Ich fragte mich, wie lange es her war, dass er geschlafen hatte. »Sie ist einfach immer schwächer und schwächer geworden. Wir wussten, dass ein Arzt nichts würde ausrichten können, und so musste ich einfach zusehen …«
Lucas schluckte schwer. Balthazar zögerte, und ich erwartete einen Moment lang, dass er Lucas auf die Schulter klopfen würde oder etwas in der Art, aber das tat er nicht.
»Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, die Wandlung zu vollziehen«, fuhr Lucas fort. »Ich habe ihr angeboten, mich zu benutzen, um eine Vampirin zu werden. Aber sie wollte es nicht tun, wenn ich nicht auch mitkäme. Und ich habe abgelehnt.« Er schlug mit der Faust gegen die Wand. »Verflucht, warum habe ich sie es
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