Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
nicht einfach tun lassen?«
Balthazar schüttelte den Kopf. »Bianca hat die richtige Entscheidung getroffen. Nicht nur für dich, sondern auch für sich selbst. Es gibt Schlimmeres als den Tod.«
»Du wirst mir verzeihen müssen, wenn ich das im Augenblick anders sehe.«
»Verstehe.«
Gemeinsam standen sie dort, als wachten sie über mich. Ich wollte noch immer rufen, dass das alles ein Fehler wäre und dass es etwas geben müsse, was wir tun könnten, um alles wieder in Ordnung zu bringen, aber es fühlte sich mehr und mehr wie eine Lüge an.
Ich bin tot. Und dies ist die Erfahrung, von der ich immer gelesen habe: Man löst sich aus seinem Körper, und in dieser Sekunde wird es ein grelles Licht geben, in das ich hineinfliegen muss.
Ich wollte weinen, aber zum Weinen brauchte man einen Körper. Selbst diese Erleichterung war mir versagt. Alle Trauer und alles Entsetzen waren in mir eingeschlossen und fanden kein Ventil.
Endlich sagte Lucas: »Ich kann weder die Polizei noch einen Krankenwagen rufen. Es gibt zu viel, was ich nicht erklären kann.«
»Nein, das kannst du nicht tun«, sagte Balthazar. »Du wirst sie hier begraben müssen, und zwar ehe die Sonne aufgeht, damit es niemand sieht. Ich werde dir helfen.«
Lucas holte tief und bebend Luft. »Ich danke dir.« Es war das erste Mal, dass ich sah, wie er Balthazar gegenüber seine Wachsamkeit ablegte. Sie blickten sich ohne Groll an; die Eifersucht und die Vorbehalte zwischen ihnen waren verschwunden.
Balthazar trat an die Seite des Bettes und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Dann beugte er sich über mich und küsste mich auf die Stirn. Als er das tat, erschauderte er, und ich konnte sehen, dass er mit den Tränen rang. Doch der Augenblick verflog, und er war wieder entschlossen und ernst. Balthazar zog die Decke weg und wickelte das Laken enger um mich herum, ehe er mich auf die Arme nahm.
Sie wollen mich begraben. Wenn sie mich begraben, dann kann ich nie mehr zurückkehren!
Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich vermutlich ohnehin nicht mehr wiederkommen würde. Alles, an das ich denken konnte, war die Frage, wie ich sie davon abhalten könnte, es zu tun. Bitte, Balthazar, Lucas, hört auf. Ihr müsst aufhören!
Stattdessen trug Balthazar mich einige Schritte vom Bett fort. In seinen Augen lag eine tiefe Traurigkeit, und er konnte kaum auf das hinabschauen, was er tat. Er flüsterte: »Bedecke ihr Gesicht.« Lucas zog mir mit schmerverzerrtem Ausdruck das Laken über den Kopf. Als das geschehen war, schien sich Balthazar besser sammeln zu können. »Gibt es etwas, das … Gibt es etwas, von dem du möchtest, dass Bianca es bei sich hat?«
Lucas holte tief und bebend Luft. »Ja.«
Er lief zur Kommode, in der ich meine wenigen Besitztümer aufbewahrte, öffnete die oberste Schublade und sah zwei meiner drei Schmuckstücke dort liegen: die Brosche aus Jetstein, die er mir in Riverton überreicht hatte, als wir uns ineinander verliebt hatten, und das rote Korallenarmband, das ich als Geschenk zu meinem letzten Geburtstag bekommen hatte. Lucas’ Hand schloss sich um beide, und ich wusste, dass er sie mir in die Hände legen wollte, damit ich für alle Ewigkeiten etwas von ihm bei mir hätte.
Lass ihn das nicht tun. Du musst sie bei dir behalten.
Erschrocken sah ich mich nach der Quelle dieser anderen Stimme um. Nicht nur, dass ich sie nicht entdecken konnte, die Welt um mich herum schien wieder zu verblassen und drohte, in diesen bläulichen Nebel zu zerfallen, der mir die Sicht verschwimmen ließ.
Wer war das? Die einzige Person, die mit einem sprechen sollte, nachdem man gestorben war, war Gott, und ich war mir vollkommen sicher, dass Gottes erste Botschaft an mich aus dem Großen Jenseits kaum die Aufforderung sein dürfte, meinen Schmuck nicht herzugeben.
Trotzdem war das der einzige hilfreiche Hinweis gewesen, den ich bislang erhalten hatte. Ich dachte mir, es wäre besser, darauf zu hören.
Als Lucas den Schmuck herausnahm, versuchte ich zu sagen: Nicht. Lass ihn da . Lucas zögerte, aber ich war mir nicht sicher, ob das an meinem Einfluss lag oder nicht. Was sollte ich sonst noch tun?
Dann erinnerte ich mich daran, wie es sich angefühlt hatte, als Balthazar auf der Treppe durch mich hindurchgegangen war. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl gehabt, dass seine Empfindungen die meinen waren. Ich wusste nicht, ob Balthazar selber auch etwas gefühlt hatte. So traurig, wie er gewesen war, konnte es sein, dass er
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