Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
ich verstanden. Es ändert nur nichts.« Dann schnitt er eine Grimasse und starrte auf die unter uns liegenden Straßen. Philadelphia funkelte nicht wie New York bei Nacht, aber die Stadt war trotzdem glänzend vom vielen Stahl und es gab viel mehr Licht als Dunkelheit. »Mom ist jetzt ganz allein. Sie hat erst Eduardo verloren, dann mich. Und man hat ihr ihre Zelle vom Schwarzen Kreuz genommen. Was wird sie jetzt machen? Wer ist denn jetzt noch für sie da? Ich hatte vor, mit dir davonzulaufen, und ich bereue es auch nicht, dass wir es getan haben, aber als ich diese Entscheidung traf, hatte ich geglaubt, dass Eduardo bei ihr bleiben würde. Ich weiß: Du denkst, sie ist so stark und tapfer, und das ist sie auch, aber jetzt …«
Ich war so damit beschäftigt gewesen, über meine eigene Lage und die meiner Freunde nachzugrübeln, dass ich keinen Gedanken an Kate verschwendet hatte. In vielerlei Hinsicht war ihre Situation ebenso schlimm wie die meiner Eltern, wahrscheinlich sogar noch schlimmer, denn die hatten wenigstens einander. Kate hingegen hatte niemanden mehr. »Wenn wir irgendwann wirklich in Sicherheit sind, kannst du sie ganz bestimmt mal anrufen.«
»Wenn ich jemals mit ihr Kontakt aufnehme, wird sie es auf jeden Fall dem Schwarzen Kreuz melden. Das sind die Regeln. Und die wird sie nicht brechen.«
»Nicht einmal für dich?« Ich glaubte keine Sekunde daran, aber Lucas offenbar schon.
Er betrachtete unser Spiegelbild auf der Oberfläche des Pools, als wäre er müde. Auch wenn ich sehen konnte, dass sein Zorn am Abklingen war, trat nun eine tiefe Niedergeschlagenheit an seine Stelle. Und die war kaum leichter zu ertragen. »Mom ist eine gute Soldatin. So wie ich immer ein guter Soldat sein wollte.«
»Das bist du doch.«
»Gute Soldaten verraten das große Ziel nicht der Liebe wegen.«
»Wenn das Ziel nicht die Liebe ist, dann ist es das Opfer nicht wert.«
Lucas warf mir ein trauriges Lächeln zu. »Du bist es wert. Das weiß ich. Auch wenn du es vermasselt hast. Weiß Gott, ich habe es ebenfalls vermasselt.«
Ich wollte ihn umarmen, doch irgendwie spürte ich, dass es noch nicht der richtige Moment dafür war. Die inneren Dämonen, mit denen Lucas rang, mussten heraus.
Er fuhr fort: »Ich habe mein ganzes Leben beim Schwarzen Kreuz verbracht und immer gewusst, wer ich bin und was meine Bestimmung ist. Ich wusste, dass ich für immer ein Jäger sein würde. Und nun ist alles vorbei.«
»Ich weiß, wie sich das anfühlt«, antwortete ich. »Ich habe stets geglaubt, ich würde eine Vampirin werden. Nun weiß ich nicht, was als Nächstes kommt. Das … macht mir Angst.«
Lucas nahm meine Hand. »Solange wir einander haben«, sagte er, »ist es die Sache wert.«
»Das weiß ich. Aber ich frage mich trotzdem, Lucas: Was soll aus uns werden?«
Er gab zu: »Das weiß ich nicht.«
Ich legte ihm die Arme um den Hals und hielt ihn ganz fest. Wir brauchten mehr als Liebe; wir mussten stark genug sein, um Vertrauen in die Zukunft zu haben.
Die nächsten paar Tage verliefen ruhiger, fast entspannt. Auch wenn Lucas offenbar Zeit damit verbrachte, über seine Mutter nachzugrübeln, war der Streit zwischen uns beigelegt. Wir sahen fern oder liefen herum und besuchten Philadelphias Sehenswürdigkeiten. Eines Tages zogen wir getrennt los, damit ich herausfinden konnte, ob sie in irgendeinem Restaurant eine Kellnerin brauchten, während Lucas sich um einen Job in einer Autowerkstatt bemühte. Zu unserer großen Überraschung und Erleichterung bekamen wir beide Angebote, gleich nach dem Feiertag anzufangen.
Jede Nacht verbrachten wir zusammen in unserem Hotelzimmer.
Ich hätte nicht geglaubt, dass es möglich wäre, jemanden noch mehr zu begehren, je enger man mit ihm zusammenlebte. Alles, was ich wusste, war, dass ich keine Zweifel mehr hatte. Lucas kannte mich, wie mich niemand je zuvor gekannt hatte, und wenn ich bei ihm lag, fühlte ich mich ganz und gar in Sicherheit. Danach rollte ich mich neben ihm zusammen und versank in einen Schlaf, der zu tief für Träume war.
Nur in der Nacht des vierten Juli war das anders. Vielleicht lag es am Feuerwerk oder dem süßen Schock nach zu viel Zuckerwatte, doch in dieser Nacht hatte ich den lebhaftesten Traum von allen.
»Ich bin hier«, sagte das Geistermädchen.
Es stand vor mir und sah überhaupt nicht wie ein Hirngespinst aus, sondern wie eine ganze normale Person. Ich konnte den Tod in ihm fühlen, der die Hitze aus meinem Körper sog. Das tat
Weitere Kostenlose Bücher